Roggwil. Alkäisch.

 

«Wehrdi, es ist nicht schön, mit so armen Leuten nicht nur das Gespött zu treiben, sondern sie auch zum Gespött der ganzen Welt machen zu wollen. Wir sind zwar arme Leute, aber das haben wir nicht verdient.» (Gotthelf: Leiden und Freuden eines Schulmeisters. Roman [1839], Sämtliche Werke III, Zürich/Erlenbach [Rentsch] 1921, 416).

 

«Damit ein Kunstwerk gefällt, muss es sich von einem antiken Vorbild inspirieren lassen.» (Jean Paul Sartre: Was ist Literatur?  [1948] Reinbek bei Hamburg [Rowohlt] 1986, 72; hier zur Literatur des 17. Jahrhunderts).

 

«Roggwil. Alkäisch. 24 Oden an eine Herkunft» ist der Arbeitstitel eines nicht abgeschlossenen Gedichtzyklus, der meiner Grossmutter Rosa Lerch-Schär (1897-1991) gewidmet ist.

 

Im Frühjahr 1984 habe ich als Redaktor der WochenZeitung (WoZ) einen unbezahlten Urlaub bezogen, um mich auf die Suche nach meinen Wurzeln väterlicherseits zu machen. In diesem Monat befragte ich deshalb auch meine Grossmutter nach der Herkunft ihres damals bereits verstorbenen Ehemanns. Sie hat mir zwar einiges erzählt, das Gespräch aber nach dem zweiten oder dritten Treffen abgebrochen. Ich solle über die Herkunft der reichen Leute schreiben, sagte sie, über die Herkunft armer Leute gebe es nichts zu sagen. Wegen dieser Begründung habe ich später einem Aufsatz über die Herkunft meines Grossvaters als Verdingbub den Titel «Die grosse Scham der kleinen Leute» gegeben. 

 

Nach dem Tod der Grossmutter hatte ich die Idee, dieser Scham der kleinen Leute mit einer lyrischen Arbeit etwas entgegenzusetzen, sie auf meine Art zu widerlegen. Die Idee: Fasst man ein Thema in eine literarisch kanonisierte Form, so erhält es auch dann Bedeutung und Beachtung, wenn es bloss die Herkunft kleiner Leute betrifft. Bedeutung und Beachtung aber sind stärker als der Zwang zur Scham.

 

Ich entschied mich, einen Gedichtzyklus in alkäischen Oden zu schreiben, einer von Klopstock und  später Hölderlin in die deutsche Sprache eingeführten altgriechischen Odenform. Entstanden sind zwischen 1995 und 2005 fünfzehn Oden, ein Fragment – für zwei weitere Oden war Material bereitgelegt.

 

Der Zyklus ist Torso geblieben, nicht zuletzt, weil mich meine Lebenserfahrung seither lehrte, dass meine Grossmutter vermutlich recht gehabt hat.

v11.5