Warum Achilles Penthesilea tötete

Adam-und-Eva-Mythos und Plastik im Dritten Reich; klösterliche Frauenmystik und Revolutionsarchitektur; reaktionäre Avantgarde und feministische Theologie: Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Buch über die ganze Welt. Erst in zweiter Linie interessiert da, was im einzelnen hervorgehoben und wie es präsentiert wird. Zuerst fragt sich, wer überhaupt spricht und aus welcher Perspektive. Wer ist also Beat Schneider?

Perspektive eines Neuen Linken

1979 erschien im Rotpunktverlag ein Buch mit dem Titel «Zwüschehalt». Darin versammelt waren «13 Erfahrungsberichte aus der Schweizer Neuen Linken». Einer dieser Berichte befasste sich mit Beat Schneider, damals Parteifunktionär und bernischer Kantonsparlamentarier für die Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). In diesem Bericht hat er Auskunft gegeben über seine Herkunft als Einzelkind einer Wiedertäuferfamilie in La Neuveville, über den Besuch des mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasiums in Basel und über sein Theologiestudium ebendort: «Die Theologie aber, der Versuch, die religiösen Dinge, Gott und die Bibel denkerisch zu durchdringen, das war Gotteslästerung, war Verrat an der Herkunft.» 1970 trat er der Basler POB bei, und kurz darauf wurde er ausgeschickt mit dem Auftrag, «Bern ‘aufzubauen’». So kam Schneider in die Bundeshauptstadt, baute die POCH Bern auf und wurde vermutlich ihr wirkungsvollster Vertreter überhaupt, weil er nicht nur «links» denken, sondern auch mit den «Rechten» in ein verbindliches Gespräch kommen konnte.

Daneben unterrichtete er an der Schule für Gestaltung und sah sich im Rahmen dieser Lehrtätigkeit immer klarer vor der «Notwendigkeit, Kulturgeschichte neu zu verstehen und zu schreiben und die bekannten Kulturphänomene aus einer kritischen Sicht anzuschauen». Die über viele Jahre zusammengetragenen Materialien dieser kritischen Sichtung hat Schneider nun geordnet und unter dem Motto des frühen Marx publiziert, wonach «alle Verhältnisse umzuwerfen» seien, «in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen» sei. Aus diesem «kategorischen Imperativ» hat er seine Perspektive entwickelt: Schneider liest die Geschichte der Hochkulturen als «Geschichte der Herrschaft»: «Von Menschen über Menschen, vor allem in Form von Herrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über andere Klassen (Klassismus), des Patriarchats über die Frauen (Sexismus) und der weissen, abendländischen Kultur über die anderen Kulturen oder ‘Minderheiten’ (Rassismus). Hinzu kommt das herrschaftliche Verhältnis zur Natur, das heisst die hierarchische Spaltung zwischen Natur und Kultur.» Unter dieser Perspektive geht es darum, die Phänomene der Kulturgeschichte als Sozialgeschichte zu entschlüsseln und die Kunstbetrachtung als ideologiekritische Dekodierung der in den Kunstwerken eingeschriebenen Herrschaftscodes zu betreiben.

Mit dieser klaren Deklarierung der Perspektive, die seiner Arbeit unter dem Abschnitt «Einführung in die Methode» vorangestellt ist, bekennt sich Schneider zu seiner intellektuellen Biografie. Die Perspektive der «anderen Kultur- und Kunstgeschichte» ergibt sich aus den theoretischen Bemühungen der «Neuen sozialen Bewegungen» seit 1968.

Abstieg in die Hochkulturen

Während allerdings ein Mann heute unverfänglich Klassismus- und Rassismus-Kritik betreiben kann, haftet der Patriarchats-Kritik, wird sie von Männern vorgetragen, immer etwas Schillerndes an: etwas von musterschülerhaftem Anbiedern schwingt mit und etwas von positiver Diskriminierung (ich schreibe im Interesse der Frauen, Hauptsache, ich schreibe). Mit diesem Widerspruch müssen schreibende Männer hier und heute leben, ohne ihn auflösen zu können: Voraussichtlich noch für lange Zeit wird männliche Patriarchatskritik auf dem Weg zu einer wirklichen Partnerschaftlichkeit eine heikle Gratwanderung bleiben zwischen zwei Königreichen von falschen Hunden: von winselnden Feministen und kläffenden Mackern.

Schneiders Darstellung bemüht sich durch Einbezug der frühgeschichtlichen Arbeiten kritischer Forscherinnen, die Rolle der Frauen vor den ersten patriarchalen Hochkulturen überhaupt in den Blick zu bekommen. Er lässt die menschliche Kulturgeschichte um Jahrtausende früher beginnen in der Zeit der «neolithischen Frauenreiche» (Heide Göttner-Abendroth), die eigentliche «matrizentrische Hochkulturen» gebildet haben müssen (Carola Meier-Seethaler). Aus dieser Zeit zu lernen sei, so Schneider, dass «Herrschaft eine geschichtliche Errungenschaft» sei, dass es aber zuvor sehr wohl «herrschaftsfreie» Gesellschaften gegeben habe, die nichtherrschaftliche Stabilisierungsverfahren gekannt hätten: «Symbolische Kommunikation, sexuelle Soziabilität, Zusammenarbeit, Gleichheitsnormen».

Unter diesem Blickwinkel werden die ersten so genannten «Hochkulturen» als «folgenschwerer und grosser Rückschritt» beschreibbar: «Hochkultur» heisst jetzt vor allem anderen Herrschaft der Männer über die Frauen; Kasten, Klassen und Versklavung der untersten Schichten; wirtschaftliche Arbeitsteilung, Militarisierung der Gesellschaften und Entstehung von Verwaltungsapparaten, Gewaltmitteln und despotischem königlichem Gottesgnadentum. Nicht als Ausdruck metaphysischer menschlicher Höherentwicklung, sondern im Dienst dieser Patriarchalisierung der Gesellschaften entstanden die Schrift oder die Monumentalität in der bildenden Kunst. Für diesen Patriarchalisierungsprozess, der sich von der Abschwächung der neolithischen matriarchalen Sozialsysteme bis zu den frühen patriarchalen «Hochkulturen» entwickelt, steht bei Schneider der Mythos von der Amazonenkönigin Penthesilea, die vor Troja von Achilles im Zweikampf getötet wird.

Mit der ausführlichen patriarchatskritischen Fundierung seiner Darstellung problematisiert Schneider jeden kulturgeschichtlichen «Fortschritt» als in sich widersprüchlich. Sein Buch dokumentiert über weite Strecken Walter Benjamins geschichtsphilosophisches Diktum: «Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.» Am wenigsten gelingt diese Problematisierung bei den matrizentrischen Hochkulturen, deren «Herrschaftsfreiheit» deshalb verdächtig ideale Züge annimmt.

Schneider ordnet die unendliche Fülle des Stoffs in dreissig Kapitel, und es entspricht seiner Redlichkeit, dass er die notwendige Auswahl und Gewichtung nicht theoretisch objektiviert, sondern zu Beginn darauf hinweist, er habe sich «um den Grundsatz bemüht, nur Dinge darzustellen», zu denen er selber «einen auf direkter Erfahrung beruhenden Bezug habe». In den ersten sieben Kapiteln zeichnet er den Weg zu den «sogenannten Hochkulturen» nach. Danach folgen Abschnitte über das antike Griechenland, die «römische Herrenkultur», das abendländische Mittelalter, die Renaissance, den Barock und die bürgerliche Revolutionskultur. Die letzten zehn Abschnitte widmet er kunst- und kulturgeschichtlichen Aspekten der Moderne, von der Kultur der Arbeiterbewegung «zwischen Autonomie und Integration» über die «politische Ästhetik des Faschismus» bis hin zur zeitgenössischen «Kultur hinter Matt- und Windschutzscheiben», die zum Beispiel zum «Verlust des öffentlichen Raumes»  und zum «Zerfall der sozialen Netze» führe. Die Rolle der Frauen in den entsprechenden Zeitaltern wird immer wieder in speziellen Abschnitten sowie kleinen und grossen Exkursen skizziert.

Vermittlung statt Selbstinszenierung

Ob als Politiker, als Dozent an der Schule für Gestaltung und ab diesem Herbst an der Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung in Bern oder als Verfasser seiner «andern Kultur- und Kunstgeschichte»: Immer ist Beat Schneider ein überlegter und überlegener Kommunikator. In seinem Buch verzichtet er darauf, sich in einem hermetischen akademischen Diskurs ein Denkmal zu setzen, stattdessen bemüht er sich, die Stofffülle durch didaktisch klare Präsentation übersichtlich zu gestalten. Jedes Kapitel ist gegliedert in eine Absichtserklärung, in die reich illustrierte Darstellung und in weiterführende Hinweise. Was er zu sagen hat, sagt er in einer einfachen und klaren, passagenweise lexikalisch knappen Sprache. Diese angestrebte Klarheit wird unterstützt durch das Gestaltungskonzept von Stephan Bundi. Der Satzspiegel des grossformatig gebundenen Buches gliedert sich in zwei breite und eine schmale Spalte, was vielfältige Gestaltungsvariationen ermöglicht. Zur weiteren Gliederung dient die Farbe Altrosa, in der der Umschlag sowie die Titel- und Legendenschriften gehalten und kleine, neben dem Haupttext laufende Exkurse unterlegt sind.

Mit Sicherheit ist Schneiders «Penthesilea» eines der schönsten Bücher, das der Berner Zytglogge-Buchverlag in seiner bald dreissigjährigen Geschichte überhaupt herausgegeben hat (und ein Meisterwerk von Willi Schmid, dem verdienstvollen, unterdessen pensionierten Lektor des Verlags). Das Buch ist inhaltlich, konzeptionell und graphisch klar durchdacht und sauber ausgeführt und eignet sich gleichermassen zum unterhaltenden und anregenden Blättern und als Ausgangspunkt für vertiefende Selbststudien in den verschiedensten Bereichen der Kultur- und Kunstgeschichte. Dass das Buch einer selbstkritischen neulinken Perspektive verpflichtet ist, kann es gerade für jene zum Ereignis machen, die sich in den letzten Jahren ab und zu fragten, ob eigentlich alles für die Katz gewesen sei. Schneiders Buch beweist: Die seit 1968 erarbeitete Weltsicht treibt auch heute noch höchst originelle Blüten, die dazu verführen möchten, weiterzudenken, statt sich dumm machen zu lassen.

Beat Schneider: Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Bern (Zytglogge Verlag) 1999.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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