zum geleit

 

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«Die Mutter legte ihm das Säckchen um und sprach: ‘Diese Asche, die das Herz meines Mannes ist, dieses Rot, das sein Blut, dieses Schwarz, das unsere Trauer ist, sollen immer auf deiner Brust ruhen als das Feuer der Rache an den Henkern.’ – ‘Ich will es’, sagte Ulenspiegel. Und die Witfrau umarmte und küsste den Verwaisten, und die Sonne ging auf.»

(Charles de Coster)

 

das vorliegende konvolut ist kein «buch». solange unter einem «buch» die warenförmig zusammengeleimte aufarbeitung von geschriebener sprache verstanden wird, ist es eher papierene luft.

 

wäre dieses konvolut ein «buch», so wäre es nur zum preis von 0 franken verkaufbar, denn ein ding kann keinen wert darstellen, ohne einen gebrauchswert zu haben: «Ist [ein Ding] nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit und bildet daher keinen Wert.» (Karl Marx) nur ein narr brächte daher nutzloses als ware auf den markt. vorliegende  texte aber sind – wie ihr verfasser hofft – poesie und also nutzlos.

 

deshalb ist dieses konvolut kein «buch»: es verzichtet darauf, ware zu sein. es zieht sich sozusagen freiwillig aus der ungeheuren warensammlung dieser welt zurück und tritt hiermit in erscheinung als nicht-warenförmiges. hierin ist es zweifelsohne am ehesten vergleichbar mit luft, die bekanntlich geatmet werden muss, ohne bezahlt werden zu dürfen.

 

wenn aber vorliegendes konvolut kein «buch» ist, dann kann es, obschon gedruckt und verteilt, nicht «veröffentlicht» werden, denn in der welt der ungeheuren warensammlung kann kein ding «öffentlich» sein, das sich dem joch der warenförmigkeit nicht unterworfen hat: nicht ist, was nicht ware ist, und was nicht ist, kann auch nicht «öffentlich» sein: «Gedichte sind […] eigentlich kein öffentliches Thema. Ein allgemeineres wirtschaftliches Interesse liegt nicht vor.» (Peter Rühmkorf)

 

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die nicht-veröffentlichbarkeit des konvoluts hätte seinen verfasser vor 150 Jahren zweifellos härter getroffen als heute: damals war «öffentlichkeit» der raum der gesellschaftspolitischen auseinandersetzung. heute hingegen ist die «öffentlichkeit» lediglich noch die mediale bühne, auf der gesellschaftspolitische auseinandersetzung mittels fortgesetzter vortäuschung als «öffentliche» verhindert wird. im bereich der poesie ist «öffentlichkeit» ein metaphysisches konstrukt in den köpfen jener, die sie produzieren.

 

der poetInnen wirkliche «öffentlichkeiten» sind erstens die staatlichen und privaten kunstbeförderungsinstitutionen, denen die pazifierende und integrierende funktion ihrer milden gaben klarer ist, als den poetInnen aller sparten die ihre: kunst am bau der herrschenden verhältnisse herzustellen. ihre wirklichen «öffentlichkeiten» sind zweitens die verlage, denen sie sich auf knien nähern auf der suche nach dem irrwitzigen idealismus, der das dringende bedürfnis nach einem defizitgeschäft hat. ist dieser gefunden – wird also die poesie «veröffentlicht» –, so wird eine notwendigerweise kleine auflage des «buchs» in die immensen distributionskanäle des büchermarkts eingespiesen, versäuft dort rettungs- und spurlos und wird später zu einem guten teil als makulatur an den gestaden des altpapierkontinentes abgelagert. 

 

aus solcher «veröffentlichung» folgt dreierlei: der verlag hat erstens sein defizitgeschäft, die poetInnen haben zweitens wegen des druckkostenbeitrags, den sie dem verlag entrichten müssen, ein ebensolches resp. im günstigsten fall ein honorar in der höhe eines handlangerwochensalärs; darüberhinaus haben sie: kein feedback, keine auseinandersetzung mit ihrer arbeit und das vergnügen, vor bescheidenen ansammlungen von notorischen literaturbeflissenen, die alle irgendwie selber auch literarisieren, lesungen (à ca. 300.-) durchführen zu dürfen. als drittens folgt: ihnen geht der ruf voraus, sie hätten ein «buch» «veröffentlicht». 

 

beim vorliegenden konvolut liegt die sache anders: da es kein «buch» ist und demnach nicht veröffentlicht, d.h. verkauft werden kann, tut ihr verfasser folgendes: er privatisiert die produktionskosten des konvoluts und deckt sie mit lohneinnahmen aus seiner arbeit als braver zeitungsredaktor. da deshalb das konvolut hier und heute mit fug und recht als «nichts» gelten darf, könnte man sagen: der verfasser verschleudet einerseits seine aktuelle arbeitskraft, andererseits geld, welches er als gegenwert für geleistete arbeit erhalten hat, indem er beides zur herstellung von papierener luft zweckentfremdet, was dem bruttosozialprodukt hiesigen landes gleichviel nützt, wie wenn er sein geld (und seine arbeitskraft) direkt in die aare schmeissen würde, welch letzteres aber ein sehr kurzes vergnügen ist.

 

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falsch ist, aus dem bisher ausgeführten zu schliessen, der verfasser sei ein «selbstverleger» in den flegeljahren, der einen entschiedenen punkt seines gewerbes noch nicht richtig begriffen habe: auch selbstverleger-flegel würden nie und nimmer «nichts» verlegen. richtig ist andererseits die annahme, der verfasser huldige der ansicht, dass unter den heutigen ökonomischen und politischen rahmenbedingungen poesie auf der welt keinen ort habe. daraus folgt, dass, wer einerseits hier und heute poesie «veröffentlicht» und andererseits über die unmöglichen rahmenbedingungen dieser «veröffentlichung» klönt, ein sogenannter «sozialdemokratischer jammeri» ist. darüber zu jammern, dass in dieser welt keine poesie platz hat, ist selbstverständlich ganz falsch. richtig ist, sich nach dieser erkenntnis einer zweiten nicht zu verschliessen: poesie braucht keinen irrwitzigen verlagsidealimus und keine pazifierenden resp. integrierenden kulturbeförderungsinnstitutionen; poesie braucht eine andere welt. so einfach ist das. 

 

was nun die nicht-«öffentliche» distribution des konvoluts betrifft: sein verfasser verteilt die gedruckte auflage nach und nach an jene leute, die er für würdig befindet, selbiges nach gutdünken zu lesen, weiterzugeben oder wegzuwerfen. statt die simulierte «öffentlichkeit» des «buchs» erreicht es das reale netz des verfassers. die vorliegenden texte wollen demnach nicht von möglichst vielen, sondern von den richtigen gelesen werden. richtig sind die, die dieses geleitwort lesend sich nicht davon abschrecken lassen, dass sie das konvolut nicht «besitzen» können (sowenig wie man luft besitzen kann) und sich mit ihm auseinandersetzen wollen, obschon keine «öffentliche» rezeption stattfindet und deshalb die kenntnis der texte dem eigenen sozialprestige beim small-talk unter lesebeflissenen nur um ein minimes zuträglich sein wird. 

 

das konvolut umfasst meine poetische arbeit von den ersten versen kleinbürgerlich-moralischer empörung bis zur diskussion einer strategie zur rettung des subjekts in der poesie. für mich bleiben auch die frühen texte diskutabel, insofern ich jeweils versucht habe, das äusserste meiner welterkenntnis mit dem äussersten meines sprachlichen ausdrucks zusammenzubringen.

 

ich stelle dieses konvolut zur diskussion, weil ich der überzeugung bin, dass hier und heute im unvernünftigen – soweit es form, inhalt und präsention des konvoluts durchzieht – mehr kraft für widerstand und veränderung steckt, als in allen denkbaren schulmeisterlich korrekten verteidigungen der «vernunft». ich räume hiermit meine vorgeschobenen positionen im bereich des begriffs «vernunft»; sie sind völlig ausgebombt: von der wahren vernunft ist nichts als die waren-vernunft geblieben. was heute «vernunft» ist, bestimmt aussschliesslich der feind. «Dieser Herrschaftsapparat der Vernunft hat sich in der spätin-

 

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dustriellen Gesellschaft zu einem Verblendungszusammenhang verdichtet, in welchem auch das Subjekt – einstmals Träger der Aufklärung – überflüssig wird.» (Albrecht Wellmer) dagegen stelle ich die unvernunft: die rationalität meiner erkenntnis.

 

sie schicke ich, solange ich denken kann, aus meiner heimatlichen sprachlosigkeit hinaus in die labyrinthe der herrschenden sprache. geformt zu merkwürdig-entfremdeten wortgebilden kehrt sie zurück. immer jedoch erkenne ich sie wieder am aschenamulett der unversöhnlichkeit: der sehnsucht nach dem, was nicht ist.

Bern, im november 1989

Fredi Lerch

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