Sonnenminute

 

I          Fliegenzeit

 

Halb abgewandt aus meiner Sicht,

allein in seiner Welt,

döst vor sich hin im grellen Licht

ein Esel. Hingestellt.

 

Steht reglos. Nur sein Fell vibriert.

Halsabwärts Ohrentanz.

Ein Huf stampft Staub, der sich verliert.

Die Flanken wischt der Schwanz.

 

So steht im heissen Sonnenlicht

ein Esel im Gedicht

und regt sich nicht.

 

(21.7.2009/21.7.2013)

 

II         Blutbuchenblatt

 

Am obersten Zweig ein einzelnes Blatt

vor blauem Himmel rostrot, matt.

 

Schiebt es ein Windstoss vors Eichengrün,

wandelt das Blatt sich in blutrotes Glühn.

 

Doch fliegt im Wind das Blättlein zurück,

verblaut sein Glühen: bescheidnes Geschick.

 

(19.7.2009)

 

III        Sonnenminute

 

Die gründurchglühende Scheibe vorm Stamm,

deren Licht durch Verschattungen fliegt,

baut unten auf Seerosenlaub einen Damm,

der silbrighell auf dem Wasser liegt.

Der Weiherspiegel steht braunschwarz und flach

trägt Laubschiffchen fürsorglich über den Damm,

wirft Wellen Lichts unters Blätterdach,

und oben verschwindet die Scheibe im Stamm.

 

(28./29.7.2009)

 

1.

Als flinker Erstleser hat mir bereits am 30. Juli 2013 Jürgen Theobaldy Rückmeldung gegeben zum Gedicht «Fliegenzeit». Er kritisierte die dritte, dreizeilige Strophe, als klischiert. Den Hinweis in einem Gedicht, dass das Gedicht Gedicht, also Text und nicht Esel sei («Ceci n’est pas une pipe»), habe man doch auch schon ab und zu gelesen. Er schlug vor, diese Strophe zu streichen und aus dramaturgischen Gründen die Strophen 1 und 2 auszutauschen. Das ergäbe folgendes Gedicht:

 

Fliegenzeit

Steht reglos. Nur sein Fell vibriert.
Halsabwärts Ohrentanz.
Ein Huf stampft Staub, der sich verliert.
Die Flanken wischt der Schwanz.

Halb abgewandt aus meiner Sicht,
allein in seiner Welt,
döst vor sich hin im grellen Licht
ein Esel. Hingestellt.

 

Was Theobaldy nicht wissen konnte, ist, dass ich das Gedicht-im-Gedicht-Motiv erst am 21. Juli 2013 einbezogen habe und der vier Jahre zuvor entstandene Text so gelautet hat:

 

Fliegenzeit

Sonnabgewandt im Mittagslicht,
allein in seiner Welt,
döst vor sich hin, bewegt sich nicht:
ein Esel, hingestellt.

Steht reglos. Nur sein Fell vibriert,
die Flanken wischt der Schwanz.
Ein Huf stampft Staub, und unbeirrt:
halsabwärts Ohrentanz.

Der Esel steht im Mittagslicht,
bewegt sich nicht.  

 

2.

Nachdem Jürgen Theobaldy obige Werkstatt-Episode gegengelesen hatte, reagierte er am 31. Juli mit einer E-Mail wie folgt:

«Das ältere Verspaar finde ich schwächer als das zum Trio erweiterte, weil durch das Wort ‘Gedicht’ doch eine neue Dimension hinzukommt. Nur ist die Möglichkeit, das Gedicht im Gedicht als Gedicht anzusprechen, schon in der Lyrik der sog. Neuen Subjektivität in den 1970ern Jahren inflationär umgesetzt worden und hat dadurch etwas Unerhebliches gekriegt. 

Was das frühere Verspaar angeht, so fügt der zweite Vers dem ersten und der erste den zwei vorangehenden Strophen nichts hinzu. Man hat das statische Bild des stehenden Esels, auch das Mittagslicht dazu längst vor Augen, und das wird vom ersten Vers in Strophe drei lediglich bestätigt und diese Bestätigung vom letzten Vers verdoppelt – was es gar nicht braucht. So entsteht keine Spannung zum Übrigen, keine Steigerung, und das macht das letzte Verspaar redundant. Aber ein überflüssiger Vers bedeutet wohl immer den Tod der Strophe, wenn nicht des ganzen Gedichts. Ich bleibe also dabei, dass dein Gedicht in der Variante der ausgetauschten Strophen ohne diese Art Coda aus drei Versen am stärksten ist. 

Noch einen Tipp zur ‘Sonnenminute’: Manchmal erzielt man, ohne ein Wort zu ändern, einen spannenden Effekt, wenn man statt einem Block von Versen (in diesem Fall acht) Luft und Licht durchschiesst, indem man mittels drei Leerzeilen vier Mal je zwei Verse setzt und also ein Gedicht von vier Verspaaren erhält. Am Compi hast du das im Nu durchgespielt. Hier fände ich dieses Druckbild reizvoll, weil es das Unbewegliche, ja Meditative des Augenblicks verstärkt und diesen Augenblick, diese Minute noch luftiger erscheinen lässt.»

Im Sinn dieser Anregung würde das Gedicht so aussehen: 

Sonnenminute

Die gründurchglühende Scheibe vorm Stamm,
deren Licht durch Verschattungen fliegt,

baut unten auf Seerosenlaub einen Damm,
der silbrighell auf dem Wasser liegt.

Der Weiherspiegel steht braunschwarz und flach
trägt Laubschiffchen fürsorglich über den Damm,

wirft Wellen Lichts unters Blätterdach,
und oben verschwindet die Scheibe im Stamm.

[Ich danke Theo für das lehrreiche kritisch-solidarische Gegenlesen und für die Erlaubnis, die beiden Werkstattepisoden hier zu dokumentieren.]

v11.5