«Wissen zu wollen, was los ist»

Den Computer starten, Mails herunterladen, News-Portale öffnen: Andere Mitglieder der Redaktion mögen ihren Arbeitstag so beginnen. Betritt Michael Stötzel die Work-Redaktion, dann geht das so: Seine Begleiterin, Gretchen der Rauhhaardackel, rennt los und begrüsst laut und deutlich alle Anwesenden – vorzugsweise jene, die eben ein heikles Telefonat führen. Während Stötzel Büchsenfutter hervorkramt, tut Gretchen ihre Vorfreude kund, bis er genervt ruft: «Sag mal, spinnst du? Halt’s Maul!»

In fliegender Hast füllt Herrchen den Fressnapf mit einer Geruchsemission, um der Lärmemission Herr zu werden. Wenn er sich danach an sein Pult setzt und den Computer startet, zweifelt er manchmal an seinen Erziehungsmethoden. Verbürgt ist sein Stossseufzer: «Gretchen erzieht ja mich.» Worauf ein lebhaftes Nicken durchs weite Grossraumbüro gegangen sei.

Verantwortliche sind nicht Schicksal

Spezialisiert ist man bei work nicht. Dazu ist die Redaktion zu klein. So ist auch Stötzel vorab ein Allrounder. Trotzdem hat er seine «Strecken», auf denen er vor allem arbeitet: der Bau, die Chauffeure, die tertiäre Branche; die flankierenden Massnahmen, die Bilateralen, die Personenfreizügigkeit, alles Auslandbezügliche und alles, was das Seziermesser erfahrungsgesättigter Ideologiekritik nötig hat.

Auf der Redaktion kann Stötzel je nachdem laut werden oder sehr still. Laut wird er, wenn er als Informationsjunkie auf einem Newsportal in Echtzeit die neuste Dummheit deutscher Innenpolitik mitbekommt und aufbraust: «Ach, schon wieder diese dumme Nuss!» Und still wird er, wenn er einen Text schreibt. Konzentriert, umlagert von Bergen von Papier, tiefschürfend und in der ersten Fassung regelmässig zu lang. Soll der Text möglichst kurz und die Sprache möglichst einfach sein, ist es auch für ihn eine Kunst, das Komplexe nicht trivial erscheinen zu lassen.

Stötzel interessiert nicht zuerst, wie etwas möglichst einfach gesagt werden kann; er will wissen, wie es ist. Nicht die eingängige Parole zählt, sondern die Wirklichkeit dahinter. «Wissen zu wollen, was los ist», sagt er, das sei es, was ihn antreibe. Als Westeuropa während des Balkankriegs fast einhellig «Böses Serbien, armes Kroatien» schrie, wies er – damals noch in der WoZ – darauf hin, dass es beidseits der Front Kriegsgurgeln gab. Und wenn von Schicksal die redet ist, weist er unermüdlich auf die Namen der Verantwortlichen hin: Nicht der Schicksalsschlag des Asbestkrebses ist seine Geschichte, sondern «3000 Asbestopfer gegen Betonmilliardär Schmidheiny» (work 7/2009).

«Wenn Du über Michael schreibst», sagt ein ehemaliger Kollege Stötzels der WOZ-Auslandredaktion, «dann betone sein grosses soziales Engagement, auch das persönliche.» Neugierde, den Punkt zu finden, wo’s wirklich wehtut; Empathie mit jenen, die die Schmerzen erleiden und Denunziation jener, die sie aus Profitinteressen zufügen. Das ist das Koordinatensystem des Journalisten Stötzel.

Klopfen, nicht huschen

Heute gibt es Schurnis, die hört man, wenn sie schreiben, und es gibt solche, die hört man nicht. Erstere sind jene, die die längste Zeit ihres Berufslebens hinter einer Schreibmaschine gesessen und ihre Texte in die Maschine geklopft haben. So einer ist Stötzel. Einer mit Fingern, die klopfen, nicht spurlos huschen. Einer mit dezidierter Meinung, der sich nie eingebildet hat, opportunistische Schlitzohrigkeit im Dienst eines Aktionariats sei das sicherste Zeichen für «objektiven» oder gar kritischen Journalismus. Einer, der in den 25 Jahren, die er in Zürich lebt, Deutscher geblieben ist, aber für die Linke in diesem Land mehr getan hat als viele, die es ihren gnädigen Schicksal danken, zwar Linke, aber doch immerhin Schweizer zu sein.

Den Computer ausschalten und nach Hause gehen: Für andere Mitglieder der Redaktion mag der Arbeitstag so zu Ende gehen. Verlässt Michael Stötzel mit Gretchen die Redaktion, fahren die beiden mit dem Tram an den Berner Hauptbahnhof und besteigen den Intercity nach Zürich. Und dann geht das so: Gretchen hüpft sofort auf die Bank am Fenster und muss vom Herrchen herunter befohlen werden, weil zuerst das Frotteetuch aufs Polster soll. Und dann muss augenblicklich das Futter her, ein Hundeguetsli. Aus einer PET-flasche leert Stötzel fürsorglich Wasser in eine kleine Tupperware, Gretchen nippt und Stötzel kippt den Rest des Wassers zurück in die Flasche. Dann blättert er den «Blick am Abend» flüchtig durch, und dann nimmt er sich das Sichtmäppchen vor mit all den ausgedruckten Artikeln und Aufsätzen, die er heute unbedingt noch durchsehen will, um endlich zu wissen, wie es wirklich ist.

 

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Ein Vierteljahrhundert Schweiz

Michael Stötzel (* 1948) wächst in Essen. Studium der Völkerkunde in Bonn, ethnologische Feldforschung in Südamerika und eine Dissertation unter dem Titel: «Wir sind auch gute Menschen… Zur Integration und Marginalisierung der Guarayos, einer Gruppe indianischer Campesinos des ostbolivianischen Tieflands».

1968 wird für ihn zu einer «phantastischen, unvergesslichen Zeit», wie er später sagt. Unter anderem engagiert er sich als «Roadie» an den Iegendären internationalen Essener Songtagen im September 1968, der Geburtsstunde der eigenständigen deutschen Rockmusik.

Skeptisch gegenüber Spontis und Radikalinskis und allergisch auf gesellschaftliches Unrecht steigt er als Journalist und Redaktor ins Berufsleben ein, zuerst bei der sozialistischen «Neuen» in Berlin. 1987 bis 2002 arbeitet er als Auslandredaktor bei der Wochenzeitung WoZ in Zürich, seither bei «Work».

Zusammen mit seinem Rauhhaardackel Gretchen lebt er in Zürich. Er plant nach der Pensionierung in die Nähe von Massa Marittima in die südliche Toskana zu ziehen.

 

Auf 1. Juli 2010 ging der Work-Redaktor Michael Stötzel in Pension. Zu diesem Anlass produzierte die Redaktion die vierseitige Beilage «wörk. Eine Hommage» mit dem Haupttitel: «Michael Stötzel: ‘Sag mal, spinnst du?’» und dem Leitkommentar «Ci vediamo» der Chefredaktorin Marie-Josée Kuhn. Ich steuerte für die letzte Seite den «wörktag» bei – ein Berufsporträt meines langjährigen WoZ-Kollegen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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