2000

 

[100: leer; 101: Titel; 102]

angelus novus

 

noch gibt es einen fahrplan eine tagesschau und

eine mittwochspressekonferenz des bundesrats

noch gibt es eine ordnung in den katastrophennews

nach kontinenten und nach anzahl toten

noch gibt es aber auch den feierabend und das recht

nicht hinzuschaun und wegzuhören

 

wir prosten mit dem bessern wein

auf unsre unversehrtheit schaun befremdet weg

wenn jemand bleich geworden

rückwärts tastet nach dem stuhl

und sagt: die wirklichkeit ist schräg

ins unsagbare weggerutscht

 

und achtlos halten wir

die leeren gläser hin

die uns ein engel nachfüllt

während er im sturmwind

unsrer plauderworte rückwärts

aus dem raum getrieben wird

(2001)

 

[103]

alles wird gut

 

sieh all die grau gekleideten propheten

die in die mikrofone tiefstgefasste

menschenfreundlichkeiten sprechen:

hör was sie alles wissen und bedenken

und wie die welt in ihren reden

sich freut von nun an gut zu sein

 

und sieh die augen all der lauschenden

sieh wie sie dürsten nach dem wort

das man in ihre köpfe senkt

und dankbar nicken ob der dunkelheiten

aus denen blitze fahrn auf alles

was ihre welt am gutsein hindert

 

und sieh die wörter: diese lautgebärden

dieses feingestimmte kehlgeräusch

des tieres mensch: wie weit es reicht:

kaum übers knurren fauchen bellen

und übers winseln nie: es reicht

nicht an die welt hinan

(2001)

 

[104]

beim rasenmähen

 

                                    …bricht immer und immer

ab: das reden verunklart im zeigen und deuten

und meinen.

 

                                    kein lehren hilft ja. zu lernen

ist nichts. nur befehl hilft gehorchen. erbaut

sind die steinernen schluchten die pisten des sinns

konstruiert zweck und grund sind erfunden

rasend vollzieht sich der lauf

der erzwungenen dinge.

 

                                    so ists. erwartet wird

gleichgültigkeit. ansonsten gilt freiheit des worts und

die wahrheit der landestopographie.

 

                                    In kehrrichtsäcken

am strassenrand stehen die gestrigen

widerworte. stand hält allein noch das schauen.

am wegrand der huflattich und der nachbar am fenster

erlöst vom vorläufig gnädigen urteil

des arzts.

 

                                     entleert sind die himmel

und hinter den wolken kein traum kein leben kein weg.

verloren die antwort auf längst vergessene fragen

und immer und immer von neuem verendet der vers

in der falle der finalität und…

(1999)

 

[105]

werkbesichtigung

 

sind nun schon alle keimwörter fortgespült?

entwortet fliesst der zeitstrom und leergelebt.

das lallkies kollert monoton und

klackt über schweigsamen grund. der aufruhr

 

verklingt als kunstgesang von verpasstem kampf.

die welt ein spiel mit längen. das drehbuch längst

und anderswo verfasst. man lebt sich

ein als statist mit bescheidner rolle.

 

was ist ist übermächtig. was ist beherrscht

das wollen wünschen fordern und noch den traum.

was ist ist machtgestanzter wortlaut:

aktengestützt und als recht verordnet.

 

jedoch die stadt verjüngt sich im muntren lärm

des logenvolks. es preist seinen chef vom dienst

der alles stets zum guten wendet:

so liebt das schicksal die auserwählten.

 

ich aber lieb die arbeit im flussbett mit

dem lallkies. zwar bleibt vieles gewendet stumm.

nur selten zeigt das zeitgeschiebe

ecksteine eines erhofften weltbaus.

 

die stadt lässt mich mein narrenwerk tun. sie liebt

die wörterwender: hartnäckig anspruchslos

tun sie was niemand braucht: das ehrt sie.

hoffnungslos frei geht mein atem trotzdem.

(1998)

 

[106]

môtier

 

das wasser ruht die sprache streicht es glatt

und macht dass es ein schöner spiegel bleibt

die möven schreien heiser wie man schreibt

ans andre ufer schreib ich eine stadt

 

ein kind steht halb im see halb im gedicht

und schleudert helle wassergarben mit

den armen hoch la pêche est interdite

dann hupt das schiff vor praz ins abendlicht

 

und gleitet in den text schön anzuschaun

mit seinem rettungsring für jede not

nur die erinnerung ist schon ein bisschen tot

und junge schwäne bleiben ewig braun

(1992)

 

[107]

reisender in sachen nichts

«…ein Dasein mit leichtem Gepäck, in der 
Geborgenheit eines fortwährenden
Ausweichens…»

(Jürgen Theobaldy)

 

den zweck verlieren! ratlos bleiben

vertreiben den lockenden schein

kein ziel! nur staunend und zähe

die nähe befragen im windzug

im blindflug der rasenden fahrt

 

verwahrt wirkt das schweigen im morgen

verborgen in nischen des jetzt

zersetzt es den tag der nie schweigt

und zeigt auf verbrochene kreise:

weise sind nicht die fahrenden räder

 

jeder moment ziert sich neu

mit frei erfundenen heldenfeiern

von weltbefreiern nur an den rändern

ändern die zeiten nicht: immer ist da ein

dasein mit leichtem gepäck

(1998)

v11.5