1997

 

[67: Titel; 68]

alpabzug

 

«Sag an, Helvetien, du Heldenvaterland! 
Wie ist dein altes Volk dem jetzigen verwandt?»

(Albrecht von Haller)

 

herauf aus felsumtürmten wasserreichen

an gletschertischen stehn die lederleichen

und grüssen firn und mythenschwangres eis

ihr haupt umkränzt von alten todestreichen

zum kampf bereit sind knochengeck und -greis

 

            sie reden sich heiss hinter garben lichts

            im schneewind brichts im schneewind brichts

 

sie schütteln ihre blanken sehnenstränge

das weissgebein die haut- und haargehänge

sie trinken frank und frei auf frohe wiederkehr

sie queren gletschertor und schotterhänge

und fallen schatzend über alpen her

 

            sie fahren durchs land hinter fahnen winds

            zweihundert sinds zweihundert sinds

 

zur grenze ziehn die wiedergängertellen

zur wacht am rhein und hart an wind und wellen

wächst hinter jedem grenzstein ein skelett

die stirn zum firn voll wut auf blut: so fällen           

sie landeinwärts das blanke bajonett

 

[69]

            kein weg und kein traum in die fremde gaht

            wir sind der staat! ihr menschen: schtaht!

 

am hauptplatz stehn die ewigen gerechten

und schützen frau und kind vor fremden mächten

der scheiterhaufen steht im gletscherwind

die frau geht tot vor aufgereihten knechten

am stadttor hängt halbiert ihr schwarzes kind

 

            doch einmal ersteht ein andrer lenz

            im lande brennts im lande brennts

(1992)

 

[70]

abend auf dem land

 

der meister wäscht sich seine schwarzen hände

der lehrling hat sich rauchend weggedreht

steht an der türe hustet schweigt

bevor er seinen töff besteigt

und im quartier noch zwei drei runden dreht

zum essen geht er zur mutter daheim

hängt über seinem teller holt behende

die stiefel bomberjacke und

die zigarette schon im mund

sagt er zum vater der stumm vor ihm steht:

geh weg – ich tret dir die eier zu schleim

 

am treffpunkt kippen sie die büchsenbiere

besehn die noblen schlitten vorm gemeindehaus

sie rotzen über geile fotzen

und saufen bis sie schaumig kotzen

sie spucken magensaft und kippen aus

sie treten garben von glut in den wind

und einer spielt das spiel der kuscheltiere

bläst eine gummipuppe auf

kniet über sie pisst rülpsend drauf

greift sich im sack ein messer sagt: he maus

steht auf – sonst mach ich dir damit ein kind

 

dann grölen sie und spieln mit den pistolen

und saufen weiter bier und nichts geschieht

ein streifenwagen fährt vorbei

der abwart ruft: macht kein geschrei

verriegelt das gemeindehaus und flieht

 

[71]

jetzt wanken sie an der kirche vorbei

für heute abend ist nichts mehr zu holen

dann geht allein der schwarze koch

der dorfbeiz zur mansarde hoch

als plötzlich einer weinend vor ihm steht:

du sau – ich schiess dir die fresse entzwei

(1992)

 

[72]

Hofgänge

 

Mit jedem Tag ist neu

und fertiger die Welt. Die Feinde sind

zerstreut, verstummt die Klagen.

Man trennt jetzt sachlich Spreu

vom Weizen. Abgeschobne gehn im Wind

nach Brot, sie gehn an Zäunen lang, gehn blind

und schattenlos vorbei

im Willen, ich zu sagen.

 

Die ordnende Kartei

mahnt Ausgeschaffte streng zur Opferpflicht,

dem Leben zu entsagen,

sonst droht die Barbarei.

Bescheidung will, dass klaglos Schicht um Schicht

das eigne Angesicht zu schwarzem Licht

zerbricht. Geht man entzwei,

vergisst man, ich zu sagen.

 

Wer bleiben darf, geht frei

im Kreis und staunt die Stempeluhren an

mit hochgeschlagnem Kragen.

Nie kommt es zu Geschrei.

Man schätzt den gottgewollten Vordermann.

Man schreitet frohgemut im Takt voran.

Man lernt was tabu sei:

der Wille, ich zu sagen.

(1996)

 

[73]

Gipfelsturm

 

Die Pfründen sind nun neu verteilt.

Schon türmt sich Mist von neuen Gockeln.

Die Narben schmerzen unverheilt.

Wer profitiert, winkt angeseilt

und sehr effektvoll von den Sockeln.

 

Die Kinder wissen alles und

verschwören sich in Katakomben

zum gnadenlosen Treuebund.

Sie bauen tief im Untergrund

die neue Welt aus Splitterbomben.

 

Im Licht des steten Fortschritts stehn

die positiven Sockelbauer,

markieren temperiertes Flehn

um Einsicht, Reife und Verstehn,

das Klima werde leider rauer,

 

drum helfe nichts als tolerant

zurückzustehn und gute Taten:

Man stellt zwar niemand an die Wand,

man fordert allerdings Verstand

unter braven Demokraten.

(2000)

 

[74]

Grillparty

 

Ist auch der Rest der Welt suspekt:

Hier ist die Bausubstanz reell.

Das schwere Dach ist neu gedeckt.

Die Kupferkännel blinken hell.

 

Die Plattenwege breit und eben

und hoch und schmal der Zierkamin.

Am Sichtbeton die Kletterreben

markieren tarnend sattes Grün.

 

Geranien schmücken die Fassaden.

Die Schatten schatten nur diskret,

und hinter jedem Fensterladen

sieht etwas, wer vorübergeht.

 

Die Panzersperren, halb verwittert

Im Vorfeld, machen autonom.

Die Salonfenster sind vergittert.

Der Gartenzaun steht unter Strom.

 

Der Seeanstoss träumt stark verriegelt.

Im Park verschanzt ein Goldfischteich,

der eine eigne Sonne spiegelt

im freigekämpften Nahbereich.

 

Und abends: Barbecue. Die Gäste

umstehen sich im Kampfanzug

und wittern durch die dichten Äste

Verschwörung, Aufruhr und Betrug.

 

[75]

Dann wird das tote Tier verschlungen,

das friedlich dreht im Gartengrill.

Noch ist der Feind nicht eingedrungen,

doch droht die Nacht verdächtig still.

(1998/2004)

 

[76]

Im Grünen

 

Die Sender senden. Wissensstränge

Zerschneiden scharf und immer neu

den Raum. In Bunkern Glücksgestänge:

Plantagen Geldes, Lichterspreu

aus Traumstaub. Frei gestanzte Scharen

vergolden Schrott und Kot, und Schicht

um Schicht verkleiden sich die Waren.

Ich aber geh nach Zuversicht.

 

Das Land: besoffne Feierstätte,

zerfallne Netze: randwärts fahl,

als ob es noch zu leben hätte,

entsorgtes Menschenmaterial

zuhauf. In schlichten Staatsgewändern

halten neu Gewählte Standgericht

und sagen wahr: Nichts ist zu ändern,

die Macht braucht keine Zuversicht.

 

Noch tanzen Kinder. Greise ehren

verschwiegen wahre Worte und

vor Lust zerbricht im Ungefähren

ein lippenlos gelebter Mund.

Die Angst lebt abgeschirmt im Grünen,

das Grauen hat hier kein Gesicht,

denn jedermann kann sich verdienen,

was er gebraucht an Zuversicht.

(1996)

 

[77]

Case di sotto

Für O. S., 1945-1997

 

Der alterssanfte Weg. Wer setzte

und wann den schiefgetretnen Tritt?

Wer war die erste, wer der letzte,

die vor dir hier talauswärts schritt?

Der Boden schwingt: zerfallnes Laub,

zerfallne Namen. Tanzend: Staub.

 

Pilzboden

Erdflecken im Geröll

trocken verschattete Runsen

im Steilhang Kastaniengehölz

verweht das Rauschen

des Bachs

 

Terrassenrest. Hier wühlten Schweine,

das Unterholz war Weideland.

Wer schleppte diese flachen Steine

und fügte sie mit welcher Hand?

Ein Tier schreit auf: vergessner Ruf.

Vergessne Müh, die Mauern schuf.

 

Kalkrippen

auswärts geneigter Fels

moosbraune Abbrüche turmhoch

in Tobeln geborstenes Holz

verwaschne Blöcke

im Licht

 

[78]

Die Hauswand eingestürzt. Ein Baum treibt Äste

aus Heim und Herd. Aus Schutt und Kot.

Hier lachten Kinder, sassen Gäste.

Wer brachte Wein? Wer buk das Brot?

Hier lockte Welt: erhofftes Glück.

Erhoffter Weg hierher zurück.

 

Versunkene Siedlung. Hinab

zum Grund. Die Breggia

blitzt auf.

(1997)

v11.5