[67: Titel; 68]
alpabzug
«Sag an, Helvetien, du Heldenvaterland!
Wie ist dein altes Volk dem jetzigen verwandt?»
(Albrecht von Haller)
herauf aus felsumtürmten wasserreichen
an gletschertischen stehn die lederleichen
und grüssen firn und mythenschwangres eis
ihr haupt umkränzt von alten todestreichen
zum kampf bereit sind knochengeck und -greis
sie reden sich heiss hinter garben lichts
im schneewind brichts im schneewind brichts
sie schütteln ihre blanken sehnenstränge
das weissgebein die haut- und haargehänge
sie trinken frank und frei auf frohe wiederkehr
sie queren gletschertor und schotterhänge
und fallen schatzend über alpen her
sie fahren durchs land hinter fahnen winds
zweihundert sinds zweihundert sinds
zur grenze ziehn die wiedergängertellen
zur wacht am rhein und hart an wind und wellen
wächst hinter jedem grenzstein ein skelett
die stirn zum firn voll wut auf blut: so fällen
sie landeinwärts das blanke bajonett
[69]
kein weg und kein traum in die fremde gaht
wir sind der staat! ihr menschen: schtaht!
am hauptplatz stehn die ewigen gerechten
und schützen frau und kind vor fremden mächten
der scheiterhaufen steht im gletscherwind
die frau geht tot vor aufgereihten knechten
am stadttor hängt halbiert ihr schwarzes kind
doch einmal ersteht ein andrer lenz
im lande brennts im lande brennts
(1992)
[70]
abend auf dem land
der meister wäscht sich seine schwarzen hände
der lehrling hat sich rauchend weggedreht
steht an der türe hustet schweigt
bevor er seinen töff besteigt
und im quartier noch zwei drei runden dreht
zum essen geht er zur mutter daheim
hängt über seinem teller holt behende
die stiefel bomberjacke und
die zigarette schon im mund
sagt er zum vater der stumm vor ihm steht:
geh weg – ich tret dir die eier zu schleim
am treffpunkt kippen sie die büchsenbiere
besehn die noblen schlitten vorm gemeindehaus
sie rotzen über geile fotzen
und saufen bis sie schaumig kotzen
sie spucken magensaft und kippen aus
sie treten garben von glut in den wind
und einer spielt das spiel der kuscheltiere
bläst eine gummipuppe auf
kniet über sie pisst rülpsend drauf
greift sich im sack ein messer sagt: he maus
steht auf – sonst mach ich dir damit ein kind
dann grölen sie und spieln mit den pistolen
und saufen weiter bier und nichts geschieht
ein streifenwagen fährt vorbei
der abwart ruft: macht kein geschrei
verriegelt das gemeindehaus und flieht
[71]
jetzt wanken sie an der kirche vorbei
für heute abend ist nichts mehr zu holen
dann geht allein der schwarze koch
der dorfbeiz zur mansarde hoch
als plötzlich einer weinend vor ihm steht:
du sau – ich schiess dir die fresse entzwei
(1992)
[72]
Hofgänge
Mit jedem Tag ist neu
und fertiger die Welt. Die Feinde sind
zerstreut, verstummt die Klagen.
Man trennt jetzt sachlich Spreu
vom Weizen. Abgeschobne gehn im Wind
nach Brot, sie gehn an Zäunen lang, gehn blind
und schattenlos vorbei
im Willen, ich zu sagen.
Die ordnende Kartei
mahnt Ausgeschaffte streng zur Opferpflicht,
dem Leben zu entsagen,
sonst droht die Barbarei.
Bescheidung will, dass klaglos Schicht um Schicht
das eigne Angesicht zu schwarzem Licht
zerbricht. Geht man entzwei,
vergisst man, ich zu sagen.
Wer bleiben darf, geht frei
im Kreis und staunt die Stempeluhren an
mit hochgeschlagnem Kragen.
Nie kommt es zu Geschrei.
Man schätzt den gottgewollten Vordermann.
Man schreitet frohgemut im Takt voran.
Man lernt was tabu sei:
der Wille, ich zu sagen.
(1996)
[73]
Gipfelsturm
Die Pfründen sind nun neu verteilt.
Schon türmt sich Mist von neuen Gockeln.
Die Narben schmerzen unverheilt.
Wer profitiert, winkt angeseilt
und sehr effektvoll von den Sockeln.
Die Kinder wissen alles und
verschwören sich in Katakomben
zum gnadenlosen Treuebund.
Sie bauen tief im Untergrund
die neue Welt aus Splitterbomben.
Im Licht des steten Fortschritts stehn
die positiven Sockelbauer,
markieren temperiertes Flehn
um Einsicht, Reife und Verstehn,
das Klima werde leider rauer,
drum helfe nichts als tolerant
zurückzustehn und gute Taten:
Man stellt zwar niemand an die Wand,
man fordert allerdings Verstand
unter braven Demokraten.
(2000)
[74]
Grillparty
Ist auch der Rest der Welt suspekt:
Hier ist die Bausubstanz reell.
Das schwere Dach ist neu gedeckt.
Die Kupferkännel blinken hell.
Die Plattenwege breit und eben
und hoch und schmal der Zierkamin.
Am Sichtbeton die Kletterreben
markieren tarnend sattes Grün.
Geranien schmücken die Fassaden.
Die Schatten schatten nur diskret,
und hinter jedem Fensterladen
sieht etwas, wer vorübergeht.
Die Panzersperren, halb verwittert
Im Vorfeld, machen autonom.
Die Salonfenster sind vergittert.
Der Gartenzaun steht unter Strom.
Der Seeanstoss träumt stark verriegelt.
Im Park verschanzt ein Goldfischteich,
der eine eigne Sonne spiegelt
im freigekämpften Nahbereich.
Und abends: Barbecue. Die Gäste
umstehen sich im Kampfanzug
und wittern durch die dichten Äste
Verschwörung, Aufruhr und Betrug.
[75]
Dann wird das tote Tier verschlungen,
das friedlich dreht im Gartengrill.
Noch ist der Feind nicht eingedrungen,
doch droht die Nacht verdächtig still.
(1998/2004)
[76]
Im Grünen
Die Sender senden. Wissensstränge
Zerschneiden scharf und immer neu
den Raum. In Bunkern Glücksgestänge:
Plantagen Geldes, Lichterspreu
aus Traumstaub. Frei gestanzte Scharen
vergolden Schrott und Kot, und Schicht
um Schicht verkleiden sich die Waren.
Ich aber geh nach Zuversicht.
Das Land: besoffne Feierstätte,
zerfallne Netze: randwärts fahl,
als ob es noch zu leben hätte,
entsorgtes Menschenmaterial
zuhauf. In schlichten Staatsgewändern
halten neu Gewählte Standgericht
und sagen wahr: Nichts ist zu ändern,
die Macht braucht keine Zuversicht.
Noch tanzen Kinder. Greise ehren
verschwiegen wahre Worte und
vor Lust zerbricht im Ungefähren
ein lippenlos gelebter Mund.
Die Angst lebt abgeschirmt im Grünen,
das Grauen hat hier kein Gesicht,
denn jedermann kann sich verdienen,
was er gebraucht an Zuversicht.
(1996)
[77]
Case di sotto
Für O. S., 1945-1997
Der alterssanfte Weg. Wer setzte
und wann den schiefgetretnen Tritt?
Wer war die erste, wer der letzte,
die vor dir hier talauswärts schritt?
Der Boden schwingt: zerfallnes Laub,
zerfallne Namen. Tanzend: Staub.
Pilzboden
Erdflecken im Geröll
trocken verschattete Runsen
im Steilhang Kastaniengehölz
verweht das Rauschen
des Bachs
Terrassenrest. Hier wühlten Schweine,
das Unterholz war Weideland.
Wer schleppte diese flachen Steine
und fügte sie mit welcher Hand?
Ein Tier schreit auf: vergessner Ruf.
Vergessne Müh, die Mauern schuf.
Kalkrippen
auswärts geneigter Fels
moosbraune Abbrüche turmhoch
in Tobeln geborstenes Holz
verwaschne Blöcke
im Licht
[78]
Die Hauswand eingestürzt. Ein Baum treibt Äste
aus Heim und Herd. Aus Schutt und Kot.
Hier lachten Kinder, sassen Gäste.
Wer brachte Wein? Wer buk das Brot?
Hier lockte Welt: erhofftes Glück.
Erhoffter Weg hierher zurück.
Versunkene Siedlung. Hinab
zum Grund. Die Breggia
blitzt auf.
(1997)