Linditas Flucht und Ankunft

 

[Teil 1]

Linditas Flucht aus dem Kosovokrieg

Der Film «Kein Kinderspiel» porträtiert Flüchtlings-Secondas, die mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen sind. Jetzt ist der Film in Bern zu sehen. Eine der Porträtierten, Lindita Salihu, erzählt ihre Geschichte.

Bis April 1999 wächst Lindita Salihu mit ihren albanischen Eltern und fünf älteren Brüdern im dritten Stock einer Blockwohnung in Prishtina auf. Als wegen des Kosovokrieges und ethnischen Säuberungen die Welt ihrer Kindheit untergeht, ist sie elf Jahre alt. Heute lebt sie als Schweizerin in Bern und arbeitet auf der Gemeindeverwaltung in Lyss. Sie hat Journal B die Geschichte ihrer Flucht erzählt.

*

«Es begann damit, dass meine zwei ältesten Brüder aufgefordert wurden, für die jugoslawische Armee in den Krieg zu ziehen, was jedoch keiner der beiden mitmachen wollte. Ab diesem Zeitpunkt wurde es für sie unmöglich, in Ruhe zu leben. Sie mussten sich jede Nacht bei Verwandten oder Bekannten verstecken. Wir befürchteten, dass sie verschleppt würden. Von Verschleppten hat man jeweils nie mehr etwas gehört, oder sie wurden in plombierten Särgen nach Hause retourniert. Deshalb mussten sie beide schnellstmöglich diesem Wahnsinn entfliehen. Schliesslich sind sie in Bern gelandet.

Jetzt ist es aber für uns in Prishtina erst recht schlimm geworden. Die Militärpolizei ist immer wieder gekommen, hat auf der Suche nach den Brüdern in serbischer Sprache herumgebrüllt, die Eltern bedroht und beleidigt, Schränke aufgerissen, Kleider herumgeschmissen, Geschirr zerschlagen.

Dann begann es mit dem drittältesten Bruder. Obwohl er erst 16-jährig war, wurde er von der serbischen Polizei auf dem Schulweg misshandelt. Es kam der Moment, wo es für ihn nicht mehr auszuhalten war. Schliesslich flüchtete auch er und schaffte es bis zu seinen Brüdern nach Bern.

Ich besuchte damals ein grosses Schulhaus. Eines Tages begann man, mittendurch eine Wand zu bauen. Die grössere, schönere Hälfte mit der Turnhalle war für die serbischen Kinder, die kleinere Hälfte für uns, die albanischen Kinder. Seither kam es ab und zu vor, dass während des Unterrichts plötzlich die Türe aufging, serbische Polizisten hereinkamen, den Lehrer beschimpften und manchmal zusammenschlugen. Wenn wir Kinder etwas zu sagen wagten, wurden wir geschlagen, und gewöhnlich folgte eine Drohung, die die Familie betraf: ‘Sei still, sonst passiert deinem Vater das gleiche wie dem da.’ Es kam vor, dass sie einen Lehrer oder den Direktor mitnahmen. Wenn sie zurückkamen, hinkten sie, oder sie hatten blaue Flecken im Gesicht.

Wer nach den acht obligatorischen Schuljahren weiterhin auf Albanisch unterrichtet werden wollte, musste sehr vorsichtig sein. Solcher Unterricht wurde im Geheimen in Privathäusern angeboten. Wenn die Polizei ein solches Haus ausfindig machte, wurden Hausbesitzer, Lehrer und Schüler misshandelt. Das ist auch meinem viertältesten Bruder passiert.

Ende Februar 1998 brach in den ländlichen Gebieten des Kosovo der Krieg aus. Unsere einzige Infoquelle, um ungefähr zu wissen, was im Land passierte, war von nun an das albanische Programm im Fernsehen. Die Leute, die vor dem Krieg flüchteten, gingen Richtung Albanien, Montenegro oder Mazedonien. Und viele kamen nach Prishtina. Gleichzeitig war auch immer mehr serbisches Militär mit Panzern in die Stadt. Leute, von denen gesagt wurde, sie würden sich für die albanische Sache politisch betätigen, wurden aus den Häusern geholt und verschwanden.

Schliesslich kam am 24. März 1999 die Meldung, dass die NATO die serbische Armee zu bombardieren beginne. Kaum hatte der Nachrichtensprecher diese Meldung verlesen, fiel in ganz Prishtina der Strom aus, damit wir nichts weiter erfahren konnten. Zudem waren von nun an die Telefonleitungen gesperrt. Wir lebten jetzt mit den Sirenen, die die Bombenangriffe ankündigten, mit dem Pfeifen in der Luft und dem Megaknall der Explosionen. Meine Eltern verhängten die Fenster mit dicken Wolldecken, weil es Meldungen gab, dass serbische Milizen als Heckenschützen abends durch die Fenster auf Leute schiesse.

Eines Abends wurde die kleine alte Fabrik in unserer Nähe bombardiert, weil sie, wie wir jetzt merkten, als Kriegsmaterialdepot genutzt worden war. Als sie getroffen wurde, war das Pfeifen besonders laut. Unser ganzer Block wackelte beim Knall und ein riesiger Feuerball stand vor den Fenstern. Während der ganzen Nacht hörten wir das Knattern explodierender Munition.

In diesen Tagen hat die Mutter die Schultaschen von uns drei Kindern mit Ersatzkleidern gefüllt und parat gestellt. Kurz darauf durchkämmte das serbische Militär den ganzen Block, schlug die Türen ein und die Soldaten sagten, wir hätten fünf Minuten Zeit, die Wohnung zu verlassen – wenn wir danach noch da seien, würden sie nicht mehr so nett sein. Der Plan des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević war die ethnische Säuberung des Kosovo. Darum mussten alle albanischen Leute gehen. So nahmen wir unsere Schultaschen und gingen mit den Eltern zum Bahnhof. Von den wenigen im Block, die sich weigerten zu gehen, hörten wir nach dem Krieg, sie seien alle umgebracht worden.

Als wir an den Bahnhof von Prishtina kamen, hatte es dort schon unheimlich viele Leute. Nach und nach wurden wir wie Tiere in megalange Züge gedrängt. Dann fuhr unser Zug Richtung mazedonische Grenze los. Mehrmals hielt er an. Bei jedem Halt durchkämmten Militärpolizisten einzelne Wagen und fragten nach Geld und Schmuck. Sie zeigten auf Jugendliche im Wagen, unter denen auch mein viertältester Bruder und der Nachbarsjunge waren. So wurden die Erwachsenen unter Druck gesetzt, ihre Wertsachen herauszugeben, was sie auch taten. Als die Soldaten Geld und Wertsachen eingesackt hatten, gaben sie sich zufrieden. Als der Zug wieder losfuhr, hörten wir Gewehrsalven. Uns war klar, dass alle, die aus dem Zug geholt worden waren, jetzt erschossen wurden.

Schliesslich hielt der Zug kurz vor der mazedonischen Grenze in der ‘neutralen Zone’, wie man dem Landstrich sagte. Wir mussten aussteigen und standen vor einer Wand von serbischen Polizisten, die allen, die vorbeigehen mussten, sämtliche Identitätspapiere, auch zum Beispiel Führerausweise, abnahmen. Sie türmen sie zu grossen Haufen und zündeten sie an. Danach durften wir auf den Geleisen Richtung Mazedonien weitergehen, wobei uns jemand warnte, nicht ausserhalb der Geleise zu gehen, weil es sonst knallen könne. Tatsächlich sah ich, als wir in Einerkolonne weitergingen, im Schotter ab und zu eine halb zugedeckte schwarze, runde Tretmine.

Schliesslich kamen wir zu einem Ort an einem rasch fliessenden Fluss. Dort gab es eine Art Flüchtlingscamp, das bereits überfüllt war. Albanische Leute aus Mazedonien brachten Essen und Babynahrung vorbei, auch Plastikbahnen zum Bau von Unterständen gegen den Regen. Von der mazedonischen Regierung gab es keine Hilfe.»

 

[Teil 2]

Linditas Ankunft im fremden Land

Lindita Salihu ist eine der porträtierten Flüchtlings-Secondas im Film «Kein Kinderspiel», der am Donnerstag im PROGR gezeigt wird. Für Journal B erzählt sie, wie sie mit ihren Eltern aus Prishtina vor Krieg und ethnischen Säuberungen flieht.

«Wir waren vier oder fünf Tage in diesem Flüchtlingscamp, als die Meldung kam, wir müssten sofort weg. Hier muss ich etwas erklären: Neben der normalen serbischen Armee und der Polizei gab es noch zwei wirklich schlimme Truppen: die Freiwilligengarde von Arkan und die nationalistischen Tschetniks.

Nun kam die Meldung, dass sich eine Gruppe Tschetniks auf unser Camp zu bewege. Wir sassen in der Falle, eingeklemmt zwischen dem Fluss Richtung Mazedonien und der Grenze zum Kosovo, wohin wir nicht zurück konnten. Gerettet wurden wir in jener Nacht von NATO-Bodentruppen, die unterdessen in Mazedonien stationiert waren und uns mit einer ganzen Kolonne von Bussen ins Innere von Mazedonien brachten. Auf Druck der Nato hatte die mazedonische Regierung unterdessen dort mehrere Flüchtlingscamps errichtet, in denen wir von Caritas, Rotem Kreuz und den Ärzte ohne Grenzen unterstützt wurden. Die Ärzte ohne Grenzen haben übrigens meinem Vater sehr geholfen und ihn mit Therapien und Medikamenten, die er brauchte, versorgt. Ich spende den Ärzten ohne Grenzen regelmässig, weil ich miterlebt habe, dass sie wichtige Arbeit leisten.

Wir kamen in ein grosses Camp in der Nähe der Hauptstadt Skopje, eine sehr trockene, fast wüstenartige Gegend. Hier trafen albanische Leute aus dem ganzen Kosovo ein. In der ersten Nacht passierte folgendes: Durchs Camp gingen italienische Nato-Truppen, denen man später KFOR-Truppen gesagt hat. Die verteilten Kinderschokolade und hielten deshalb nach allen Kindern Ausschau. Mein jüngster Bruder und ich lagen halb zugedeckt auf dem Schoss der Mutter. Ich war eingeschlafen, aber mein Bruder stand auf, als er Männer in einer fremden Sprache sprechen hörte. Als sie ihn sahen, gaben sie ihm Schokolade. Da hat mein Bruder die Decke ganz weggezogen, auf mich gezeigt und immer wieder gesagt: ‘My sister, my sister…’ So erhielt auch ich Schokolade. Klar, heute kann ich sagen: Das war doch nur Schokolade. Aber damals war das etwas Grossartiges. Wir haben sie danach in mehrere Portionen geteilt und schön süferli gegessen.

Unterdessen war es Mitte April 1999. Wir lebten uns im Camp zwar ein, aber es war sehr schwierig. Eine internationale Konferenz von Hilfswerken und Regierungen kam in jenen Tagen überein, dass die Camps aus humanitären Gründen nicht lange betrieben werden sollten. Verschiedene europäische Länder und die USA erklärten sich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen.

Deshalb wurden nun alle Familien nach den bevorzugten drei Aufnahmeländern gefragt. Mein Mami ging an die Befragung und sagte natürlich, erste Wahl sei ‘Zvizra’, die Schweiz. Allerdings gehörte zu diesem Zeitpunkt die Schweiz noch nicht zu den Aufnahmeländern. Darum sagte der Mann, dieses Land könne er auf seiner Liste nicht ankreuzen. Darauf sagte die Mutter, dann solle er halt von Hand ‘Schweiz’ hineinschreiben, denn in der Schweiz lebten drei ihrer Söhne. Er könne das schon tun, erhielt sie zu Antwort, aber sie solle sich bitte nicht zu viel Hoffnung machen.

Kurz darauf beschloss die Schweiz, ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. Einige Tage später wurden an Anschlagbrettern die ersten Listen aufgehängt, auf denen nachzulesen war, welche Familien vom Flughafen Skopje aus wann wohin abfliegen könnten. So gingen wir alle zusammen zu den Anschlagbrettern: Unsere Familie gehörte zum ersten Flüchtlingskontingent, das in die Schweiz fliegen konnte.

Am 5. Mai packten meine Brüder und ich wieder unsere Schultaschen mit den Ersatzkleidern. Der Abschied von all den Leuten, mit denen wir im Camp zusammen gewesen waren, war sehr emotional. Einer meiner Brüder musste sich zum Beispiel von seinem Freund verabschieden. Dessen Familie konnte zwar auch abreisen, aber in die USA.

Mit einem grossen Bus wurden wir zum Flughafen gefahren. Wir flogen an jenem Tag zum ersten Mal. Als wir in Zürich gelandet waren und die Treppe herunterkamen, standen wir auf einem Teppich vor vielen Presseleuten und wurden von einer Delegation des Bundesrats begrüsst, unter ihnen Ruth Dreifuss. Wir sahen alle schrecklich müde aus. Noch am gleichen Tag brachte uns ein Bus ins Empfangszentrum Basel, wo wir mit einer anderen Familie aus dem Kosovo ein grosses Zimmer teilten.

Seit mehreren Monaten hatten wir mit den drei Brüdern in Bern keinen Kontakt mehr gehabt. Im Empfangszentrum gab es zwar ein Telefon, aber wir hatten kein Geld. Darum sprach mein Mami einen jungen Albaner an, den sie in unserer Sprache hatte telefonieren hören. Dieser Mann lebte schon einige Zeit hier, kannte sich aus und war hilfsbereit. Er steckte eigenes Geld in den Automaten und telefonierte der Reihe nach die Nummern der drei ältesten Brüder durch, die ihm die Mutter auf einem Zettel gereicht hatte. Der dritte Bruder nahm ab und der Hilfsbereite gab den Hörer an meine Mutter weiter. Sie sagte: ‘Da ist deine Mutter. Ich will dir bloss sagen, es geht uns allen gut und wir sind in der Schweiz.’ – ‘Wo in der Schweiz?’ – ‘Das weiss ich nicht, aber wart…’. Sie gab den Hörer wieder dem jungen Mann, und noch am gleichen Tag trafen meine drei ältesten Brüder aus Bern zum Besuch ein.

Ich erinnere mich, dass ich auf der oberen Matratze eines doppelstöckigen Betts lag als der älteste Bruder ins Zimmer trat. Erst als ihn die Mutter umarmte, verstand ich, was in diesem Augenblick passierte: Wir waren wieder alle zusammen, und alle waren wir noch am Leben.»

*

Auf Antrag der drei ältesten Brüder konnte Lindita Salihu später mit ihren Eltern und den zwei jüngsten Brüdern aus Basel nach Bern übersiedeln. Der älteste Bruder lebt heute in Prishtina und der viertälteste in Wien. Die restliche Familie lebt in Bern.

Kurz, nachdem sie hier eingeschult worden sei – auch das hat Lindita Salihu im Gespräch mit Journal B erzählt – , habe es eines Tages während des Unterrichts einen Sirenentest gegeben. «Richtig in Panik» und ohne nachzudenken sei sie unter das Pult gehechtet. Während sie nicht begriff, warum nicht auch alle anderen bei einem Fliegeralarm sofort Deckung suchten, staunten die Kinder im Schulzimmer zuerst und begannen dann lachen. Die Lehrerin habe sie danach beiseite genommen und mit ihr das Missverständnis geklärt: «Natürlich habe ich heute nicht mehr Angst, wenn ein solcher Probealarm losgeht. Aber ungewollt passiert in mir drin doch etwas – im Kopf und im Bauch und im Herzen.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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