IX

 

Kam selten sonntags er zu Besuch zu uns;

Sass munter scherzend er hinterm Stubentisch,

Von Streich zu Streich die alte Zeit: die

Jugend mit Vater im Dorf beschwörend;

 

Erzählte er vom Aperitif bis in

Den Abend, Frau und Tochter vergessend, die

Am Tisch ihm höflich schweigend lauschten.

Stand er dann schliesslich im Mantel draussen,

 

Versprach munter wiederzukommen und

Verschwand dann schnell im Nebel der Winternacht –

So war er Vorbild mir und ich der

Bub eines grenzenlos klugen Göttis,

 

Der immer schon der Beste gewesen war,

Der alles konnte: Kaufmann und Künstler und

Als Kind schon, wie die Eltern rühmten,

Zeugnisse voll mit den besten Noten.

 

Ein Ausflug lang gehörte der Mann mir ganz,

In Basel im August dreiundsechzig und

Ich wünschte mir, was ihm gefiel: in

Briefmarkenalben Schätze zu suchen.

 

Ihm nachzueifern hatte ich Jahre schon

Ein eignes Album. Gönnerisch führte er

Mich nun in ein Geschäft mit Marken,

Zeigte mir vieles, genoss mein Staunen

 

Und schenkte mir die Drei-Rappen-Marke aus

Der alten Reihe «Technik und Landschaft», grau

Und unscheinbar: der kleinste Wert und

Trotzdem das teuerste Stück der Reihe.

 

Das Kleine kann zum Grossen werden, jedoch,

So weiss ich unterdessen, auch umgekehrt:

Mein Vorbild war bereits gescheitert,

Lange bevor es mein Vorbild wurde.

 

Als Kaufmann glücklos selbständig, dann konkurs,

Als Angestellter später zutiefst frustriert,

Als Künstler talentierter Zeichner,

Der seine Schubladen niemals auftat.

 

In seiner biedern Wohnung hab ich ihn dann,

Erwachsen nun, ein einziges Mal besucht.

Ich zeigte ihm die Zeitung, die ich

Machen half für unsre bessre Welt. Er

 

Blieb still, Nur flüchtig streifte sie kurz sein Blick:

Chaotenblatt. Dann schob er sie weg

Und fragte ohne Neugier nach den

Eltern. So wussten wir, was wir dachten.

 

Dann kam das Abendessen. Man schwieg und ass,

Und nach dem Essen hielt er mich nicht zurück.

Er war ein fremder Mann geworden,

Alt und verbittert. Ich sah ihn nie mehr.

 

Von seinem Sterben hörte ich später dies:

Die letzten Tage lag er noch im Spital,

Gab keine Antwort mehr auf Fragen,

Drehte sich, trotzig verstummt, der Wand zu.

 

[Aug./Sept. 2003; 8.7.2004; 2., 3. + 8.8.2005]

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