«Zaff Zaff Zaffaraya»

 

[I]

Die Strasse löst nicht alle Probleme

 

In der untenstehenden Chronologie der Berner Ereignisse lässt sich ablesen: Nach der 10000er Demo vom letzten Samstag, der grössten unbewilligten Manifestation in Bern seit Menschengedenken, hat sich die Kadenz der Proteste und Aktivitäten – zumindest nach aussen hin – etwas verringert. Diese Verschnaufpause gibt Gelegenheit für interne Diskussionen, Gelegenheit auch, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen.

• Der unablässige Druck der Strasse hat beim Berner Gemeinderat erste Wirkung gezeigt. Seit letztem Freitag ist auch der bürgerliche Teil der Stadtregierung bereit, das ehemalige AJZ in der Reitschule nach fünfeinhalb Jahren spätestens ab Weihnachten wieder zu eröffnen. Faktisch ist das autonome Kulturzentrum unbemerkt von der (Medien-)Öffentlichkeit seit Tagen teilweise wieder in Betrieb. Erinnert sich Albisettis Horrorkabinett an das auf Wunsch der VV-Delegation einzeln (!) abgelegte Bekenntnis zu einem autonomen Betrieb und zur Gratis-Lieferung von Strom, Wasser und Baumaterial, bleibt als letzte Klippe die Betriebskonzept-Diskussion, die innerhalb der neu erwachten Bewegung bereits verschiedenenorts angelaufen ist – eine Konzeptdiskussion, die unter anderem unsere Kulturbegriffe annähernd klären helfen sollte, die aber auch vom Gemeinderat durch neu eingebrachte Bedingungen (vgl. 1981: Öffnungszeiten, Verantwortlichkeiten, Budget, Razzia-Statut) belastet werden dürfte.

• Das Zaffaraya erhalten wir nicht so «sowieso» wie das AJZ «subito». In Sachen Gaswerkareal besteht bis jetzt lediglich ein VV-Ultimatum an den Gemeinderat, das erst nach WoZ-Redaktionsschluss ablief, und ein vorher nicht abgesprochenes Angebot des Ostermundiger Ehepaares Heidi und Peter Zuber. Lassen sich die ZaffarayanerInnen auf dem Grundstück der Zubers im Ostermundigen-Wald nieder, dann ist die Stadtregierung ohne eigenes Dazutun für Gröbste aus dem Schneider. Der Druck der Strasse würde zudem rapid abnehmen, obwohl verschiedene zentrale Forderungen, vor allem im Bereich Wohnungs- und Kulturraumnot, noch nicht diskutiert, geschweige denn erfüllt sind. Bleibt zu bedenken, ob das Zaffaraya in einem abgelegenen Steinbruch eine ähnliche Ausstrahlung entwickeln könnte wie am Aareufer in Stadtnähe.

• Als neue Kraft innerhalb der 87er-Bewegung haben sich Hunderte von MittelschülerInnen etabliert – einer der wesentlichsten Unterschiede zur 80er-Szene. Mit einer kleinen Umfrage hat die WoZ-Redaktionsstelle Bern das unerwartete Phänomen zu beleuchten versucht (vgl. unten: IV).

• Eine wichtige Frage in den nächsten Wochen könnte sein, wie sich die SchülerInnen, die ja im alten AJZ noch nicht dabei sein konnten, ins entstehende Autonome Kulturzentrum einbringen. lassen sich ihre Vorstellungen unter ein Dach bringen mit denjenigen der anderen Gruppen, die in diesen Wochen ebenfalls ein eigenes Betriebskonzept entwerfen? Immerhin funktioniert die Koordination zwischen den VertreterInnen der einzelnen Schulen überraschend gut, was auch auf schul-politischer Ebene Folgen haben wird.

• Die Verbreiterung der Bewegung durch die MittelschülerInnen, die immerhin trotz Repressionen einen Schulstreik durchgezogen haben, unterscheidet sich qualitativ wesentlich von der Verbreiterung, die am bewilligten Reithalle-Mammutfest vom 31. Oktober zu erleben war: Damals erschöpfte sich die Solidarität vieler angeblicher SympathisantInnen im Konsumieren, und Aufrufe in Richtung VV, Demo oder Zaffaraya wurden gnadenlos ausgepfiffen. Der beharrlich andauernde Protestwille der SchülerInnen zeugt hingegen von einem eigenständigen politischen Engagement.

• Das Element der «Gewaltlosigkeit» ist hauptsächlich durch die SchülerInnen in fast sämtliche Aktivitäten hineingetragen worden. Die internen Diskussionen über «Gewalt» und «Gewaltlosigkeit» – 1980 rasch und tolerant abgehakt – dürften sich noch eine Weile hinziehen. «Es ist sinnlos, wenn sich die Bewegung jetzt an der Gewaltfrage spaltet», meint ein Zaffarayaner in einem Interview (vgl. unten: VII).

WoZ-Redaktionsstelle Bern

 

[II]

Chronologie der Ereignisse

 

17.11.1987

Polizeiliche Räumung des Zaffarayas. Letzte Vermittlungsversuche (Gret Haller) scheitern. 11.40 Uhr: Stürmung des Kohlehügels im Freien Land Zaffaraya durch die Polizei, Vertreibung der BewohnerInnen und SympathisantInnen. 1. Protestdemo: Am frühen Nachmittag blockieren 400 Leute Bubenbergplatz, Rathausplatz und Lorrainebrücke. 2. Protestdemo: VV auf der grossen Schanze vor der Uni. Gegen 20 Uhr Demo von 1000 Leuten vor der Polizeihauptwache am Waisenhauplatz. Molotow-Cocktails, Tränengaseinsatz. Die Demo zieht sich zurück, Besetzung des Bollwerks.

18.11.

An der Universität, den Mittelschulen und der Schauspielschule wird gestreikt. Ebenfalls im Streik 120 SozialarbeiterInnen aus über 30 Institutionen. 3. Protestdemo: Vormittägliche Demo mit bis zu 2000 SchülerInnen und StudentInnen. Vor dem Erlacherhof (Sitz der Stadtregierung) wird die Entkriminalisierung von 25 ZaffarayanerInnen sowie die Öffnung der Reithalle für Obdachlose und für kulturelle Zwecke gefordert. 4. Protestdemo: In Biel demonstrieren 150 SchülerInnen am späten Nachmittag gegen die Zaffaraya-Räumung in Bern. 5. Protestdemo: 1000 Leute machen nach 17 Uhr eine VV auf dem verkehrsreichen Bubenbergplatz. Der Verkehr bricht zusammen. Vor 20 Uhr bei der Lorrainebrücke massiver Tränengaseinsatz der Polizei. Später wird die Kreuzung vor der Brücke von neuem blockiert, diesmal ungehindert.

19.11.

6. Protestdemo: Demo mit bis zu 3000 Leuten. Der öffentliche und der private Verkehr brechen zusammen. Die Polizei tritt nicht in Erscheinung. Am Rand der Demo werden im Bahnhof drei Leute von Zivilpolizisten gewaltsam verhaftet.

20.11.

7. Protestdemo: 1000 Leute ziehen vor den Bahnhof und legen dort den Verkehr lahm. – Der Gemeinderat gesteht zu, dass die Reitschule spätestens an Weihnachten wieder geöffnet wird.

21.11.

8. Protestdemo: An der von der VV beschlossenen nationalen Protestdemo gegen die Zaffaraya-Räumung nehmen 10000 Leute teil. AktivistInnen besetzen die Lokalradiosender «Extra Bern» und «Bern 104/Förderband» (vgl. unten: III). Auseinandersetzung vor dem Waisenhaus (Molotow-Cocktails, Wasserwerfer), ansonsten bunte & friedliche Demo. Heidi und Peter Zuber bieten den ZaffarayanerInnen privaten Boden, einen Sandsteinbruch im bewaldeten Ostermundigenberg, für die Weiterführung des Experiments an. Die ZaffarayanerInnen prüfen das Angebot, haben aber politische Bedenken.

22.11.

VV-Ultimatum an den Gemeinderat: «Wir verlangen die sofortige Freigabe zur bedingungslosen Benützung des Grundstücks, auf welchem sich das Freie Land Zaffaraya befand, oder gleichwertiges Gelände innerhalb der Gemeinde Bern. Wir erwarten die Antwort am Donnerstag, 26.11.1987, um 16 Uhr 30 vor dem Rathaus.» – Bereits am Abend teilweiser Betrieb im ehemaligen AJZ-Teil des Reitschulareals.

23.11.

Gemäss VV-Beschluss wird der «Zibelemärit» nicht gestört. Dafür eigenes Fest in der Reithalle. Am Festakt der BZ-Stiftung «Preis für Lokaljournalismus» erklärt Gastredner Robert Jungk seine Solidarität mit der Hüttendorfsiedlung und erklärt: «Zaffraya ist überall!»

24.11.

Diverse Zeitungen publizieren kritiklos eine Meldung der Stadtpolizei, wonach die ZaffarayanerInnen einen Sachschaden von 50000 Franken auf dem Gaswerkareal hinterlassen haben. Der Hauptposten, die Beschädigung von 17 Materialanhängern des benachbarten Gaswerks, wurde jedoch durch das polizeiliche Vorgehen bei der Räumung verursacht.

25.11.

Veranstaltung an der Uni Bern über Isolationshaft.

 

[III]

Lokalradio-Besetzung

 

Liebe WoZ

Wie Du kaum den anderen Zeitungen entnehmen konntest, haben wir letzten Samstag während der Zaffaraya-Demo die beiden Berner Lokalradios ExtraBERN und Förderband von ihren Konzessions-Fesseln befreit und von ihren Studios aus das Freie Radio Zaffaraya über den Äther gehen lassen. Wir ermöglichten den MitarbeiterInnen dieser Radios mit unserer Aktion nicht nur zwei Stunden unbeschwerte Teilnahme an der Demo, sondern – und das konntest Du sicher bisher keiner Zeitung entnehmen – wir hatten etwas zu sagen. Zu sagen all jenen, die bei der Anfahrt zur Demo im Verkehrschaos steckengeblieben waren; jenen, die auf den Kopf gefallen sind und deshalb nicht an der Demo erscheinen konnten, und jenen, die sich bisher nur vom «Blick» den Durchblick erhofft hatten. Wir vermittelten Stimmungsbilder live von der Demo, erzählten von der Zaffaraya-Räumung, rollten die Geschichte auf der Zerstörung von Wohn- und Kulturraum in der Stadt Bern, berichteten über die verheerende Wirkung von Tränengas, verlasen Flugblätter, Erklärungen, interpretierten Gedichte, brachten unsere Gefühle ein, trugen all das zusammen, was nun wieder einen Namen gefunden hat: Zaffaraya. Unser Radio verstehen wir als spontanen Ausdruck des in den letzten Wochen neu aufkeimenden Lebens, als Kontrapunkt zur verkommerzialisierten Normalität und als Beitrag, den Aus-Druck der Strasse in geheiligtere Gefilde hineinzutragen. Dass Albisetti und Bircher den von uns beanspruchten Raum in den Radiowellen nicht räumen konnten, erfüllt uns mit Genugtuung – ihr Gemeinderatssessel wandelt sich ohnehin zusehends zum Schleudersitz. Auch der Förderband-Guru Urs Schnell, dieses Bleichgesicht mit gespaltener Zunge, dem es gelang, mit Hilfe der PTT seinen heiss geliebten Sender nach 80 Minuten Radio Zaffaraya verstummen zu lassen, kann uns da die gute Laune nicht vermiesen, ebensowenig wie die nachträglichen stereotypen Distanzierungserklärungen der beiden Lokalradios. Der spontane Applaus an der Demo, als über Megaphon unsere Übernahme ihres Programms bekanntgegeben wurde, wie auch die breite und aktive Unterstützung, die wir auf der Gasse fanden, bestätigen uns vielmehr eines: Wir brauchen unsere eigenen, unzensurierten und dadurch ehrlichen Medien – wir brauchen eine freie Stimme im Äther!

Mit megaherzlichen Küssen
Hans Dampf
und Freies Radio Zaffaraya

 

[IV]

«Wir sind schon lange unzufrieden»

 

Am 18. November kamen sie erstmals zu Hunderten auf die Strasse. Mit einem Schulstreik protestierten sie gegen die gewaltsame Räumung des ehemals Freien Landes Zaffaraya. Von diesem Tag an erschienen sie jeden Abend, eine ganze Woche lang, immer wieder an den Demos, um sich mit den «geräumten» ZaffarayanerInnen zu solidarisieren. Was bedeutet ihnen Zaffaraya? Woher nehmen sie den Power zum Demonstrieren? Wie reagieren die Schulleitungen? Die WoZ sprach mit MittelschülerInnen.

«Das Zaffaraya ist für die meisten von uns ein Symbol dafür, dass in dieser Stadt endlich was läuft», sagt Anna*. Sie ist Seminaristin, achtzehn Jahre alt und hat am SchülerInnenstreik und an verschiedenen Demos teilgenommen. Sie war vor der Räumung nie im Zaffaraya, trotzdem ist sie «dafür». Wofür denn? Das Wort «Zaffaraya» bedeutet für viele SchülerInnen heute offenbar mehr als die ehemalige Zeltstadt auf dem Gaswerkareal. «Zaffaraya» ist Symbol für Freiheit, für das Andere, sprich das Bessere, geworden. «Zaffaraya bedeutet für mich etwas Anderes, etwas Neues, etwas Freies» (Seminarist, 18). «Zaffaraya bedeutet Freiheit und Gesetzlosigkeit» (Schülerin der Steiner-Schule, 16).

Viele betonen, dass sie die Räumung des Zaffarayas mobilisiert und auf die Strasse gebracht hat, weil «das einfach gemein war». Dennoch haben ihre Unzufriedenheit und Wut offenbar nicht nur mit dem Polizeieinsatz zu tun. Anna: «Die brutale Räumung des Zaffarayas war für die meisten nur der Auslöser. Eigentlich sind wir schon lange unzufrieden, weil wir Puff mit Lehrern haben oder keine billigen Wohnungen finden.» Die Wohnungsnot nennen einige als grosses Problem: «Ich gehe an diese Demos, weil ich mit der Wohnungspolitik in Bern nicht einverstanden bin» (Seminaristin, 17).

Die meisten gehen auch auf die Strasse, weil sie die Reitschule haben wollen. «An die Zaffaraya-Demo gehe ich eigentlich, weil ich möchte, dass die Reithalle eröffnet wird» (Schülerin der Steiner-Schule 15). «Ich erwarte, dass die Reitschule der Anfang ist von etwas, das kommen muss. Dass sie eine Kulturvermischung bietet: Konzerte (Rock, Klassik, Pop, Jazz), Rollbrettbahn, Tanzabend, Disco, Vorträge von Professoren, eine breite Palette» (Gymnasiast, 19).

Gegen Gewalt auf beiden Seiten

Mit den Forderungen der ZaffarayanerInnen solidarisiert haben sich an Berns Seminarien, Gymnasien, Handels- und Berufsmittelschulen, je nach Schule zwischen zehn und dreissig Prozent aller SchülerInnen. das auffälligste Merkmal ihres Widerstandes ist ihr vehement vertretenes Engagement gegen «Gewalt auf beiden Seiten». Anna: «Eine Mehrheit von uns ist gegen Gewalt und für Phantasie. Mit kaputten Scheiben wird sehr viel an gutem Boden kaputtgemacht.» Mehrmals distanzierten sich SchülerInnen an Demos von den «Chaoten», forderten deren Blossstellung. Argumentativ wurde nicht unterschieden zwischen Repression und Widerstand. Gewalt ist gleich Gewalt und darum schlecht. «Jene, die an Demos etwas zusammenschlagen, gehören nicht zur Demo. Ich bin für Gewaltlosigkeit» (Seminaristin, 18).

Repression von Rektorenseite

Während beispielsweise das Seminar Lerbermatt den Streik-Mittwoch teilweise zum schulfreien Tag erklärte, müssen die SchülerInnen der Gymnasien Neufeld und Kirchenfeld mit Sanktionen rechnen. Ob es bei einem Zeugnisvermerk unter «unentschuldigte Absenz» bleibt, werden die betreffenden Schulkommissionen im Dezember beraten. NA-Nationalrat Markus Ruf verlangte als Schulkommissions-Mitglied von Kirchenfeld-Rektor Willy Stadelmann eine vollständige Namensliste der Streikenden, drang aber bisher nicht durch. Im Neufeld wurde am letzten Dienstag den SchülerInnen das Aufstellen einer Wandzeitung untersagt (Begründung: «Angst vor Polarisierung»). Immerhin dürfen sie ein Podiumsgespräch mit Peter Vollmer (SP) und Marco Albisetti (FDP) abhalten, allerdings nicht wie ursprünglich zugesagt während der Unterrichtszeit.

* Name von der Redaktion geändert.

 

[Kasten]

Flugistreit am Gymer Neufeld

«Könnt ihr mit ansehen, wie gewisse Kreise uns auffordern, die Schule zu schwänzen, um demonstrieren zu können?», fragen 29 SchülerInnen des Neufeldgymers – unter ihnen Christof Bircher, der Sohn des Berner Stadtpräsidenten Werner Bircher – in einem Flugblatt, das «nach den Bestimmungen unserer Hausordnung (Art. 19) erstellt» worden sei. Gefragt wird, ob die MitschülerInnen es zulassen wollten, zu «potentiellen Rebellen gegen Gesetz und Ordnung», zu «Anarchisten», gestempelt zu werden. «Wollt ihr wirklich zulassen, dass ihr als Gymeler in der Öffentlichkeit zu politischen Zwecken missbraucht werdet?» Ein Gegenflugblatt, das 25 SchülerInnen unterschrieben, kontert: «Zeigen wir diesen kurzsichtigen Mitschülern, dass man nicht alle Probleme mit dem Gesetzbuch in der Hand lösen kann, wie es der Gemeinderat tut. […] Ihr stempelt euch selber ab zu engstirnigen Marionetten des Rechtsstaats.»

 

[V]

BZ: Zurückgezogene Kündigungen

 

Am Tag der Räumung des Zaffarayas traten fünfzehn MitarbeiterInnen der Verkaufsabteilung der «Berner Zeitung» (BZ) in einen einstündigen Solidaritätsstreik mit den BewohnerInnen des Freien Landes Zaffaraya. Nachdem den Streikenden von Sous-Chef Bernhard Giger mit fristloser Kündigung gedroht worden war, entschlossen sich noch sechs MitarbeiterInnen, den Streik in vollem Bewusstsein um die Folgen durchzuziehen. Tags darauf bestätigte Giger telefonisch die Kündigungen: «Ihr braucht erst gar nicht mehr vorbeizukommen.» Das Ganze sei von Verlagsdirektor Albert Stäheli persönlich abgesegnet, «in Absprache mit dem Arbeitsgericht». Am Donnerstag (19.11.) vernahmen die Gekündigten schliesslich durch das Radio von ihrer Wiedereinstellung – auf Druck der Redaktion.

 

[VI]

Einzelabreibungen im Verborgenen

 

Bei der polizeilichen Repression rund um die Berner Ereignisse wird ein eigentlicher Taktikwechsel gegenüber den Jahren 1980 bis 1982 deutlich: Anstelle längerer Inhaftierungen mit kostspieligen juristischen Folgen tritt vermehrt eine Art Kurzabreibung mit Prügeln, Misshandlungen und umgehender Freilassung.

Anwalt André Seydoux ist beispielsweise erstaunt, dass während der Räumung des Zaffarayas niemand für längere Zeit festgenommen wurde, obwohl die Polizei mit unerbittlicher Härte vorgegangen war. Ein «Verteidiger» des Zaffarayas befindet sich nach einem Fusstritt in die Genitalien noch heute in Spitalbehandlung, zwei Frauen trugen Gummigeschoss-Verletzungen knapp unter dem Auge davon usw.

Für diese neue Polizeitaktik sprechen auch die fünf Kurzzeitfestnahmen während der Demo am Donnerstag (19.11.). Neben dreier Punks bekamen der Student G. und sein Kollege P. eine «Behandlung» von Zivilbeamten verabreicht. Beide wurden am Rande der Demo gefasst und in Unkenntnis der Gründe mitgenommen und misshandelt. G. wurde auf der Bahnhofpolizei-Station am Nacken gepackt und bäuchlings auf einen Tisch gedrückt. Seine Arme wurden auf den Rücken gebogen und mit Handschellen arretiert. Von den anschliessenden Gewalttätigkeiten trug G. eine Nervenquetschung am Handgelenk davon, wie ein von ihm eingeholtes Arztzeugnis bestätigt. Daraufhin wurde G. in eine ca. 1 x 1,5 Meter grosse Zelle eingesperrt und schliesslich nach Angabe der Personalien ohne Kommentar freigelassen.

P. geriet vor dem SBB-Reisebüro in eine Rempelei mit einem Angestellten des Büros. Kurz nachdem DemoteilnehmerInnen die beiden getrennt hatten, wurde P.  von hinten gepackt und zu Boden geschmissen. Ein Zivilpolizist drückte P. die Hand so lange ins Gesicht, bis dieses blutete. Zwei «Zivile» schleppten P. schliesslich auf den Posten der Bahnhofspolizei, wo er seinen Kollegen G. auf den Tisch gedrückt liegen sah. P. wurde nochmals zu Boden geworfen und mit Knien gegen den Bauch traktiert. Wie G. sah auch P. erst auf dem Posten den Ausweis eines der Beamten. Nach einem Zellenaufenthalt nahmen die Zivis «stinkfreundlich», so O., seine Personalien auf und entliessen den Eingeschüchterten. Ihre Namen wollten die Polizisten natürlich nicht angeben.

Noch am Freitag behaupteten Beamte der Bahnhofpolizei gegenüber einem Reporter von Radio DRS, es hätte keine Festnahmen gegeben am Vortag. Am Montag schliesslich gab der stellvertretende Kommandant der Stadtpolizei, Armin Amherd, bekannt, dass für die von G. durch Arztzeugnis belegte Nervenquetschung tatsächlich ein Stadtpolizist verantwortlich sei. G. habe sich jedoch der Verhaftung widersetzen wollen, meinte Amherd.

Bereits nach der Besetzung der Büros der städtischen Fürsorgedirektion am 28. Oktober 1987 waren vor dem Berner Amtshaus drei der AktivistInnen von der Polizei aufgegriffen und in ähnlicher Kurzabreibung misshandelt worden. Der Trend des repressiven Vorgehens der Berner Polizei geht in Richtung solcher Abschreckungsbehandlungen ohne Aufsehen und ohne langwieriges juristisches Nachspiel.

 

[VII]

Zaffaraya lässt dich nie mehr los

 

 

Seit der zweiten Monsterdemonstration gegen die kriegerische Räumung des ehemaligen Freien Landes Zaffaraya ist klar geworden: Der Gemeinderat hat mit seinem Räumungsentscheid über 10000 SympathisantInnen auf die Strasse gebracht. Wie die ZaffarayanerInnen selber eine solche Solidaritätslawine einschätzen, was sie in Zukunft zu unternehmen gedenken und wie sie sich selber politisch einschätzen, erklären sie im folgenden Gespräch.

WoZ: Wie schätzt ihr die Räumung von Zaffaraya und die anschliessend erfolgte Solidarisierungswelle heute (22.11.1987, Red.) ein?

Katja: Was heisst da schon einschätzen. Die Ereignisse haben uns völlig überwältigt. Alles geht plötzlich wie von selber.

Rita: Es begann schon bei der Räumung. Ich hätte nie gedacht, dass so viele Leute am Tag der Räumung ins Zaffaraya kämen. Die breite Solidarität hat uns extrem aufgestellt. Am meisten gefreut hat mich, wie alle an der Räumung anwesenden SympathisantInnen ihr eigene Widerstandsform praktizierten, sowohl die sogenannt Gewaltlosen als auch die anderen, und wie beide Gruppen einander akzeptierten. Es kam sogar vor, dass die «Gewaltlosen», nachdem sie von der Polizei weggetragen worden waren, zurückkehrten und sich hinter uns auf den Kohleberg stellten. Deshalb verstehe ich auch nicht, weshalb sich die Auseinandersetzungen um die Gewaltfrage in der letzten Woche derart zugespitzt haben, dass einige Demonstrationsgruppen die Blossstellung jener forderten, welche in ihren Augen Gewalt angewendet hatten.

Urs: Diese Gruppierungen sind sich nicht bewusst, dass unsere Gewalt – vergleicht man sie mit derjenigen des Systems, des Staates – lächerlich klein ist. Alle, die sich hier in Bern zur Wehr setzten, waren und werden immer wieder mit staatlicher Gewalt konfrontiert. Deshalb ist es sinnlos, wenn sich die Bewegung jetzt an der Gewaltfrage spaltet. Es sind die so genannt Gewaltfreien, welche eine Spaltung der Bewegung vorantreiben.

Es haben sich breite Kreise mit dem «Zaffaraya» solidarisiert: von christlichen Gruppen über SchülerInnen bis zu PolitikerInnen aus dem bürgerlich-liberalen Lager. Worauf führt ihr die enorme politische Breite der Solidarität zurück?

Katja: In der Schweiz wird ja die Unzufriedenheit meist zurückgehalten. Man gibt vor, in der Schweiz lebten wir frei, und die Lebensbedingungen seien human. Mit der Räumung von Zaffaraya ist klar geworden, dass all dies eine Lüge ist. Ich denke, vielen Leuten ist wie Schuppen von den Augen gefallen, dass es in dieser Gesellschaft keinen Platz zum Leben mehr gibt. Sie haben genug vom Konsumieren, von der Oberflächlichkeit.

Rita: Die breite Solidarität zeigt mir, dass das Zaffaraya nicht nur fünfundzwanzig Leuten gehört hat. Ich sah nach der Räumung Leute weinen, die uns sehr selten besucht hatten. Viele sagen: «Einmal im Zaffaraya, und es lässt dich nie mehr los.» Für viele ist Zaffaraya ein verwirklichter Traum, ein banaler Kindertraum: von Selbstverwirklichung, von Leuten, die mit Hammer und Holz ihr «Hüttlein» aufstellen, ohne dass ihnen dauernd jemand dreinredet und Vorschriften macht.

Katja: In jedem Kind steckt der Wunsch nach einem Stück Land, auf dem es tun und lassen kann, was es will. Es gibt ja diese Robinsonspielplätze, nur dass dort eine Hütte bloss aufgestellt und nicht darin gelebt wird.

Urs: Im Unterschied dazu wurde im Zaffaraya gelebt, und davor hatten die Behörden Angst. Wir zeigten, dass es nicht nur die herrschenden gesellschaftlichen Normen gibt, sondern dass sich eine Gruppe von Leuten anders bewegen kann. Hauptsächlich die Räumung von Zaffaraya hat die Solidarität erzeugt. Durch die Zaffaraya-Räumung wurde dem System die Maske weggerissen.

Stichwort «Selbstverwirklichung», Stichwort «seine eigene Hütte bauen»: Vor zwei Jahren wurden am Senseufer illegal errichtete Wochenend- und Ferienhäuschen von der Polizei geräumt. Die Leute, die sich diese Häuschen erbaut hatten, wollten dort ein Stück Freiheit, ein Stück Selbstverwirklichung leben. Sie waren politisch gesprochen dem KleinbürgerInnentum zuzuordnen…

Urs: …halt, das ist natürlich etwas ganz anderes. Wir ZaffarayanerInnen leben in einem Kollektiv…

Rita: …wir wohnten immer im Zaffaraya, nicht nur am Wochenende…

Urs: …und uns ging es nicht ums Schrebern oder darum, den Alltagsfrust zu kompensieren.

Rita: In den zweieinhalb Jahren Zaffaraya haben wir eine neue Lebensform aufgebaut. Etwas in der Schweiz Einzigartiges.

Um was ging und geht es euch: einen individuellen Traum zu verwirklichen oder gesellschaftlich einzugreifen?

Rita: Du kannst beides nicht voneinander trennen. Beides gehört zum Traum der Menschen, das «Hüttenbauen» und das Sich-Öffnen in einer grösseren Gemeinschaft.

Katja: man erreicht die Leute nicht mit politischen Theorien, sondern mit Gefühlen, mit Dingen, die erlebt werden. Wir ZaffarayanerInnen können nicht daher kommen und sagen: «Die Gesellschaft muss verändert werden» und endlos politische Reden halten, sondern wir müssen unsere Ideen umsetzen, sie vorleben.

Urs: Natürlich wollen wir politische Veränderungen. Wir haben zum Beispiel auf die herrschende Wohnungsnot aufmerksam gemacht.

Rita: Unsere kollektive Lebensform ist politisch, weil sie anders ist als die bürgerliche Lebensform. Wir machen keine Trennung zwischen Arbeit, Freizeit und Politik. Wir wollen keine Insel sein. Mit unserem Andersleben zeigen wir, dass es auch anders geht…

Urs: …das ist politische Arbeit!

Ihr habt euch in Interviews mehrmals als AnarchistInnen bezeichnet. Was versteht ihr darunter?

Katja: Ich habe mich so ähnlich einmal im welschen Fernsehen geäussert. Wörtlich habe ich gesagt: «Wer uns unbedingt einen Namen geben will, der kann uns vielleicht am ehesten noch als AnarchistInnen bezeichnen, weil wir eben gegen jegliche Staatsform sind, weil alle Staatsformen und Gesetze lebens- und menschenfeindlich sind.» Wir sind eher AnarchistInnen als KommunistInnen, weil wir nicht glauben, dass das Problem gelöst werden kann, wenn alle Macht an die ArbeiterInnen übergeht. Besser gar keine menschenfeindlichen Fabriken mehr.

Urs: Wir wehren uns gegen Entmündigung. Nimm zum Beispiel den Verkehr hier in der Schweiz: Alles ist markiert, überall stehen Verbotstafeln, wenn eine Verkehrsampel ausfällt, kommt es zum grossen Chaos. Dasselbe spielt sich auch in unserem Alltag ab. Wir bewegen uns in einem dichten Gesetzesnetz, und dieses Netz erweist sich als wahnsinniges Hindernis, denn die Gesellschaft kann sich nicht mehr weiterentwickeln. Sie muss sich aber weiterentwickeln. Der Konsum kann nicht länger so weitergehen…

Katja: …die Ausbeutung der Dritten Welt auch nicht. Es braucht eine Änderung der gesamten Weltwirtschaft.

Eine polemische Bemerkung: Ihr fordert weniger Staat und mehr Freiheit, dasselbe wie die FDP. Und was eure Kritik an der Strassenverkehrsordnung anbelangt, die Autopartei würde sie sicher unterstützen…

Urs: … die FDP hat bei der Zaffaraya-Räumung eine zentrale Rolle gespielt. Sie hat sich dort überhaupt nicht ihrer Parole entsprechend verhalten, ganz im Gegenteil.

Katja: Wir wissen ja, in welchem Sinne die FDP das Wort «Freiheit» braucht: im Sinne der freien Marktwirtschaft. Sie meint damit die materielle Freiheit und diese wiederum nur für eine bestimmte Klasse.

Rita: Um auf die politische Zuordnung zurückzukommen: Eigentlich wehren wir uns gegen jede Bezeichnung, weil wir so auch viel mehr Leute ansprechen können. Das ist uns sehr wichtig.

Heisst das, dass ihr keine gemeinsame politische Linie verfolgt? Konnten deshalb zwei Zaffarayaner im «Blick» (20.11.) «auspacken» und sich von Gewalt, «Chaoten» und «Vandalenakten» an Demos distanzieren?

Rita: Das waren ganz bestimmt keine Zaffarayaner! Es gibt bei uns sicher Leute, die nicht unbedingt einen Stein in die Hand nehmen, doch die würden sich nie von den anderen distanzieren.

Urs: Du willst wissen, ob wir eine gemeinsame politische Linie haben. Wir schrecken eigentlich davor zurück, selber Dogmen zu entwickeln, auch in Bezug auf unser Verhalten im Widerstand. Dies ist letztlich eine individuelle Frage, die jede und jeder mit sich selber ausmachen muss. Das kann kein Gruppenbeschluss diktieren.

Wie weiter? Peter Zuber hat euch im Ostermundiger Steinbruch ein Stück Land angeboten. Geht ihr auf sein Angebot ein?

Rita: Ich sehe es als Geste, die von Herzen kommt. Zuber hat auch betont, er würde verstehen, wenn wir sein Angebot aus politischen Überlegungen ablehnten. Wir wollen es dem Gemeinderat ja auch nicht zu einfach machen.

Urs: Das Wichtigste ist, dass unser Kollektiv weiter besteht und dass es dem Gemeinderat nicht gelungen ist, uns aufzulösen.

In letzter Zeit wurde nur noch vom Zaffaraya gesprochen. Wie stellt ihr euch aber zu Reitschule und Hundehütte (vgl. unten: VIII)?

Katja: Wir sind alles GenossInnen. Wenn die Hundehütte einen Kampf führt, stehen wir ganz klar zu ihnen. Wenn es um die Reithalle geht, setzen wir uns auch dafür ein.

Rita: Es geht ja um dasselbe Ziel, um selbstverwaltete Freiräume.

Urs: Man könnte sagen: Die Reitschule hat sensibilisiert, das Zaffaraya hat formiert.

 

[VIII]

Aktion Hundehütte

 

Seit knapp einem Monat leben dreissig Obdachlose in einem Zelt und zwei Wohnwagen vor dem Brennpunkt Reitschule. Auch abgesehen von der politischen Aktualität eine exponierte Lage: Stadtzentrum, Bahnhofsnähe, herumstreunende Zivis, die auch mal zum Tränengasspray greifen, und in den letzten zwei Wochen die traditionelle Schützenmatt-Chilbi in unmittelbarer Nachbarschaft. «Mit den Chilbi-Angestellten haben wir durchwegs gute Erfahrungen gemacht. Die haben uns sogar mit Holz und Geld unterstützt», sagt Rosa (Name geändert). Weniger gute Erfahrungen haben die Leute von der Aktion «Hundehütte» mit den organisierten «Faschos» gemacht: In der Nacht auf den letzten Sonntag beispielsweise schleuderten diese, zum Teil aus einem fahrenden Alfa mit verdeckten Nummernschildern, mehrere Molis unter die beiden Wohnwagen, wobei mit viel Glück Schlimmeres verhütet werden konnte. Die Faschos waren zuvor auch bei den Demos in Erscheinung getreten; ihre Gesichter konnten auf Videofilmen festgehalten werden.

«Angst habe ich eigentlich nicht, ich möchte einfach nicht in einem brennenden Bett aufwachen», meint Rosa. Sie lebte nach zahlreichen Rausschmissen und geräumten Besetzungen seit diesem Frühling unter freiem Himmel – vor der «Aktion Hundehütte» vorwiegend auf dem Dach des Schänzli-Pavillons, wo ihr unzählige Polizei-Razzias das Leben schwer machten. Rosa war das ganze Jahr hindurch chronisch erkältet und hatte oft tagelang Fieber.

Ihr persönlicher Wunsch wäre jetzt, mit ihren KollegInnen im leerstehenden Wohntrakt des ehemaligen AJZ eine feste Bleibe zu finden. Noch ist aber offen, ob die «Hundehütte»-Leute das Angebot der Stadtregierung annehmen und in ein 9-Zimmer-Haus an der Freiburgstrasse einziehen. Dasselbe Objekt haben die ZaffarayanerInnen ausgeschlagen. Rosa sieht noch eine weitere Möglichkeit: die zwei Wohnwagen, die von SozialarbeiterInnen zur Verfügung gestellt wurden, innerhalb der Stadt zu verschieben und auf einem geeigneten Gelände zu installieren.

 

[IX]

Thorberg-Solidarität mit Reithalle

 

«An die BesetzerInnen der Reithalle […]. Auch wenn die Distanz weit ist, durchbrach der Ruf ‘Freiheit für alle’ die Mauern des eingeschlossenen Seins. Durch die Medien verfolgen wir Euren Kampf um die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung Eurer Kulturidentität. Wir wissen zu gut, was das bedeutet. Auch wir hatten schon mehrmals unsere Rechte gefordert; viel verändert hat sich hier nicht. Es wäre an der Zeit, das auch auf dem Thorberg wieder kulturelle Veranstaltungen nach unserem Wunschbild stattfinden würden. Wir hoffen, Ihr vergesst uns nicht. EIN KAMPF DRINNEN UND DRAUSSEN.»

29. 10. 1987, Fashion und 22 Mitunterzeichner (Fashion ist ein stadtbekannter Berner 80er-Aktivist).

 

[X Forderungen / Infos / Stellungnahmen]

Ein Angriff gegen alle

[…] Der Angriff durch die Räumung des Zaffarayas ist ein Angriff gegen alle Frauen und Männer, die das herrschende System bekämpfen und in kollektiven und solidarischen Lebenszusammenhängen den Prozess des Widerstandes entwickeln und vorantreiben wollen. Wir fordern:

• Die sofortige Freigabe des freien Landes Zaffaraya;

• Keine Kriminalisierung von ZaffarayanerInnen und SympathisantInnen;

• Sofortige Freigabe des Reitschulareals;

• Keine Räumung der «Hundehütte»;

• Kein Häuserabbruch;

• Keine Luxusrenovationen;

• Selbstbestimmung der MieterInnen über Renovationen;

• Freiheit, selber zu bestimmen, wer wie wo wohnen will;

• Die Quartierversammlung als oberstes Beschlussorgan für alle Veränderungen, die das Quartier betreffen.

Aus dem Communiqué der ZaffarayanerInnen und SympathisantInnen-

Aufruf zum Streik

Als denkende Menschen sollte es uns allen selbstverständlich sein, andere Kultur- und Denkformen als Chance und Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Deshalb solidarisieren wir uns in Form eines Streikes mit den Bewohnern des Zaffarayas und ihren Forderungen nach unabhängigen Lebens-, Frei- und Kulturräumen:

Morgen Mittwoch, 18.11.1987 boykottieren wir den Unterricht!

Gezeichnet von SchülerInnen verschiedener Gymnasien, Seminarien, der Studierenden der Universität Bern sowie der Schauspielschule Bern.

Forderungen der SchülerInnen (18.11.1987)

• Rückgabe des Gaswerkareals an die ZaffarayanerInnen;

• Forderung nach einem unkommerziellen Zentrum;

• Schluss mit den polizeilichen Scheinlösungen der gesellschaftlichen Probleme;

• Rücktritt der Gemeinderäte Bircher und Albisetti;

• Allgemeines Mitbestimmungsrecht der Jugend in der Politik, speziell in Jugendfragen;

• Vergrösserung der Notschlafstelle;

• Flexibler Kulturfonds für Jugendkultur, der von Jugendlichen verwaltet werden kann;

• Schaffung und Erhaltung von billigem Wohnraum;

• Vertretung der Jugend in Bau- und Kulturkommissionen;

• Wahrung der Pressefreiheit.

Gezeichnet von SchülerInnen aus dreissig Schulen in Bern, Fribourg, Biel und Ins.

Personalkontrolle, Verhaftung

Personalkontrolle: In diesem Fall gehören zu deinen Personalien Name und Vorname, Adresse, Geburtsdatum, Eltern (nur Name, keine Adresse). Nicht dazu gehören: Arbeitsplatz, Bekannte, Adressbüchlein usw. Für deine Identität genügen ID oder Pass. Mit falschen Angaben machst du dich strafbar.

Verhaftung: Aussageverweigerung. Das bedeutet, nur gerade die Angaben machen, die auch im Pass stehen und sonst überhaupt nichts mehr. Kein ‘nein’ oder ‘ja’. Das einzige, was du noch sagen kannst, ist: ‘Ich sage nichts’ oder ‘Ich mache Aussageverweigerung’ oder ‘Mit Bullen rede ich nicht’.

Flugblatt.

Achtung Tränengas

Setzt die Polizei Tränengas ein, Augen sofort mit Wasser (nicht Zitronensaft!) spülen. Die Augen müssen geöffnet sein: Unterlid herabziehen: besser geht’s zu zweit. Wichtig: nicht reiben! (sonst reibst du das Gas in die Augen hinein), sondern spülen! Mit einer Zitrone vor oder nach dem Tränengaseinsatz die Haut um das Auge und im Gesicht einreiben, das gibt einen Schutzfilm.

Atemnot: Weg vom Gas! Ein dickes nasses Tuch vor Nase und Mund schützt dich. Leute mit Asthma und Bronchitis sind besonders gefährdet. Bei Atemnot oder beschleunigter Atmung sofort zum/r Arzt/Ärztin.

Haut: Auch das Gas kann deine Haut reizen, vor allem aber das Tränengas-Wasser-Gemisch. Gegen dieses und gegen den Tränengasspray kannst du dich mit langärmligen Kleidern und Handschuhen schützen. Wenn du nass bist: Kleider weg, duschen und frisch anziehen.

Dr. Knox und Co.

Vermummen statt spalten

Solidarität unter uns heisst: über die Verschiedenheiten eine Auseinandersetzung führen und den gemeinsamen Prozess vorantreiben. Wir dürfen uns jetzt nicht über die Gewaltfrage spalten lassen. Das heisst aber auch: keine Distanzierungen und Entsolidarisierungen an den Demos selber, weil die Demos kein Ort solcher Auseinandersetzungen sein können. Genau so werden der Schmier nämlich Möglichkeiten gegeben, uns mit Tränengas nicht nur auf der Strasse körperlich zu trennen, sondern uns auch geistig noch mehr auseinanderzutreiben. Ausserdem freut sich jeder Zivi, wenn sich die DemoteilnehmerInnen beim Namen rufen (schreien) und ihnen so beim Beschriften der Fotos helfen. Vor, während und nach den Demos werden von Zivis Fotos der DemoteilnehmerInnen geschossen. Deshalb: verkleiden, vermummen, maskieren ist Schutz vor dem Fotografiertwerden, das heisst: Schutz vor Repressionen auch nach der Demo. TeilnehmerInnen einer unbewilligten Demo können alle kriminalisiert werden (Landfriedensbruch), deshalb: so oder so vermummen aus Selbstschutz.

Flugblatt.

Kunst ist kein Freiraum

Nachstehenden Kommentar sprach Daniel Müller am 19. November im «Atelier», der wöchentlichen Sendung zur bildenden Kunst des Lokalradios Bern 104/Förderband. Direkt nach der Ausstrahlung der Sendung distanzierte sich der verantwortliche Sendeleiter Urs Schnell von diesem Kommentar. Er entspreche nicht den journalistischen Gepflogenheiten des Radios.

«Wenn heute ein ‘Atelier’ über unseren Sender geht, so bedeutet dies auf gar keinen Fall, dass die ‘Atelier’-Redaktion – als Bestandteil der Berner Kulturberichterstattung – von den Ereignissen rund um das Freie Land Zaffaraya nicht betroffen wäre. Die mögliche Frage, was denn Kunst, zumal die bildende, mit der zerstörten Siedlung an der Aare unten zu tun habe, ist schnell beantwortet: Sehr viel! Mit dem an Brutalität, Zynismus und abgrundtiefer Dummheit kaum zu überbietenden Verhalten gegenüber einer friedlichen Alternative sind nämlich in unseren Augen nicht bloss ein paar Dutzend weitere Obdachlose geschaffen worden, was ja an sich schon schlimm genug wäre. Nein, als Spiegelbild jenes Denkens, das die Leute, die wir alle als Macht über uns dulden, dem Andersartigen, dem Fremden und Ungewohnten entgegenbringen, als Ausdruck jenes Denkens, das in dieser Stadt offenbar das herrschende ist, signalisiert die Zerstörung des Zaffarayas nicht bloss für die direkt Betroffenen eine existentielle Gefahr. Sollte dieser entsetzliche Umgang mit ein paar Leuten, die sich das Verbrechen haben zuschulden kommen lassen, ein ganz klein wenig anders leben zu wollen als die erdrückende Mehrheit, sollte dieser Umgang bezeichnend sein für die Art, wie man in Zukunft in dieser Stadt mit allem Abweichenden und Kritischen, mit allem Neuen und Ungewohnten umzuspringen gedenkt, dann sind alle, die ihren Kopf nicht ausschliesslich zum Nicken brauchen, vital bedroht.

Das klingt vielleicht nach Übertreibung und Dramatisierung. Aber ich bin der Meinung, sämtliche Kulturschaffende – und gerade die bildenden Künstler – müssten an diesem Punkt jetzt einmal Schluss machen mit der selbstbetrügerischen Vorstellung, im Bereich der Kunst lasse sich ein Freiraum allemal noch hochhalten, auch wenn er im praktischen Leben lange schon preisgegeben ist. Jede künstlerische Äusserung muss sich in ihrem Innersten zumindest die theoretischen Möglichkeiten bewahren, sich in der Lebenspraxis realisieren zu können; auch wenn dies schliesslich nur eine Minorität der Kulturschaffenden wirklich in die Tat umzusetzen sucht. Diese Möglichkeit aber ist für alle verbaut, wenn das Verhalten der Staatsmacht gegenüber dem Zaffaraya den Tarif angegeben haben sollte für die Art, wie man in Zukunft einzugreifen gedenkt, wenn jemand sich erdreistet, einen Gedanken Fleisch und Blut werden zu lassen. Und es wird – dies muss langsam, aber sicher allen Kulturschaffenden klar werden – es wird im Ernst nicht mehr die Frage zu diskutieren sein, ob jeder einzelne nun das, was die Leute vom Freien Land Zaffaraya unter ihrem Begriff von Kultur gelebt haben, für sich persönlich auch gerade auf diese Art angestrebt und für gut befunden hätte oder nicht. Zur Debatte steht hier und jetzt vielmehr die Frage, ob wir uns in dieser Stadt überhaupt noch die grundsätzliche Möglichkeit zu einer wie auch immer gearteten Alternative bewahren können und wollen.

Für die Redaktion der Sendung ‘Atelier’ hier auf Bern 104 heisst dies vorderhand folgendes:

1. Wir als Kulturjournalisten wie als Bewohner dieser Stadt sind entsetzt und fassungslos über die Art, wie der Gemeinderat und seine Polizei im Freien Land Zaffaraya einen Zustand hergestellt haben, den man versucht ist, mit dem schlimmen Wort ‘Endlösung’ zu umschreiben.

2. Wir betrachten uns als solidarisch mit den kriminalisierten Bewohnern von Zaffaraya und mit allen Leuten, die überhaupt je einen Funken Hoffnung auf dieses friedliche Experiment gesetzt haben.

3. Wir fordern alle Kulturschaffenden, speziell aber die bildenden Künstler dazu auf, sich diesem Protest anzuschliessen und den behördlichen Umgang mit dem Freien Land Zaffaraya als jenen eisigen Wind zu erkennen, der ihnen selber in naher Zukunft um die Ohren wehen könnte, wenn sie jetzt nicht eine dezidierte Position zugunsten grundsätzlicher Freiräume beziehen.» (Der Text ist leicht gekürzt und aus dem Berndeutschen übersetzt worden.)

Die Beiträge dieser 4-seitigen Beilage wurden ohne AutorInnen-Namen veröffentlicht. Einzig der einleitende Kommentar war mit «WoZ-Redaktionsstelle Bern» gezeichnet. Hingegen wurde auf Seite 4 ein Impressum der Beilage abgedruckt. Danach zeichneten Marie Josée Kuhn und ich selbst als Verantwortliche. Zudem: «An dieser Beilage haben mitgearbeitet: Urs Frieden, Anita Krattinger, Marie-Josée Kuhn, Fredi Lerch, Tanja Messerli, Bernhard Ott, Christine Sieber, Lisa Schäublin, Simon Thönen.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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