Im Oktober 2012 habe ich damit begonnen, Material in diese elektronische Text-«Werkstatt» einzufüllen. Seit dem 24. Mai 2013 ist sie online. In den letzten zwölf Monaten wurde sie laut Statistikfunktion der Website monatlich im Durchschnitt von etwas mehr als tausend PC’s knapp zweitausend Mal besucht, wobei um die fünftausend Seiten geöffnet wurden. Mehr als achtzig Prozent der Besuche dauerten bis zu dreissig Sekunden. Bei den restlichen gehe ich davon aus, dass jeweils tatsächlich gelesen wurde. Die genannten Werte pendeln zurzeit auf und ab. Ich kann also nicht sagen, dass die Beachtung steigt.
Stehen Aufwand und Ertrag in einem halbwegs vernünftigen Verhältnis? Warum mache ich überhaupt eine solche Werkstatt?
Diese Frage habe ich mir selbstverständlich gestellt, bevor ich mit der Arbeit begonnen habe. Seither beschäftigten mich zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Antworten: persönliche, journalistische, literarische, ideologische. Die Vielfalt der Antworten bewies mir, dass dieses Experiment nicht so schnell zu Ende bedacht ist.
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Sicher spielt beim Aufbau dieser Werkstatt narzisstische Bedürftigkeit eine Rolle, also das Bedürfnis der Bewunderung für die übertrieben eingeschätzte eigene Wichtigkeit bei gleichzeitig schwachem Selbstwertgefühl (so sinngemäss Freuds charakterpathologische Fassung des Begriffs nach wikipedia). Es ist nicht schmeichelhaft, aber es stimmt wohl: Wer ausser Konkurrenz startet, ist konkurrenzlos unterwegs. So einer war ich vermutlich stets.
Und eine Rolle spielt ebenso sicher der gekränkte Berufsstolz: Ich arbeite seit über dreissig Jahren als Journalist und habe es nicht weiter gebracht als zu regionaler subkultureller Beachtung, und von meiner Arbeit leben zu können ist phasenweise die grössere Kunst, als neue Texte zu schreiben. Eine ganze Reihe von Kollegen und Kolleginnen, die ich in dieser Zeit kennengelernt habe, spielen heute in der deutschschweizerischen Öffentlichkeit eine beachtete, wenn nicht massgebliche Rolle. Mit der Text-«Werkstatt» beweise ich mir und gegenüber einer zumindest potentiellen Öffentlichkeit: Auch das, was ich gemacht habe und weiterhin mache, ist nicht nichts. Das hilft.
Die Tatsache, dass ich ohne Auftrag und ohne vorausgesetzte Nachfrage arbeite, hat für mich einen therapeutischen Effekt. Produktionsästhetisch gesagt: Texte werden nicht geschrieben und dokumentiert, damit sie gelesen werden, sondern damit sie geschrieben und dokumentiert sind. Es geht darum, als nötig erachtete Texte zu formulieren und zur Verfügung zu stellen. Rezeption bleibt so gesehen belanglos (ein Gedanke, der möglicherweise auch etwas mit «demokratischer Kultur» zu tun haben könnte). Dass die Werkstatt wächst, hilft dem Berufsstolz. Und dass die Wahrscheinlichkeit der Beachtung pro Text sinkt, je umfangreicher und labyrinthischer sie wird, hilft dem Narzissmus gegen sich selbst.
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Seit 1981 erstmals schreibe ich in diesem Jahr nicht mehr regelmässig Beiträge für ein Printmedium. So gesehen ist diese Werkstatt für einen ausrangierten Printjournalisten der Brückenkopf in die Öffentlichkeit. Der Archivteil kann als berufsbiografischer Rechenschaftsbericht gelten. Er ist am ehesten zeitgeschichtlich interessant, mit einigen sozial- und kulturpolitischen Schwerpunkten. Dabei bin ich der letzte, der behaupten würde, die eingelagerten Texte seien allesamt gut gealtert. Texte dürfen schlecht altern, solange sie (für mich) zeitgeschichtliche Faktizität bis heute nachvollziehbar vermitteln und/oder meine damaligen Meinungen und Haltungen markant auf den Punkt bringen. (Die restlichen journalistischen Arbeiten erspare ich mir.)
Zudem bietet die Werkstatt theoretisch die Möglichkeit, sie zu einem Medium ad personam mit Archivteil aus- respektive umzubauen: Die rechte Spalte mit Monatskolumne, Monatsgedicht und der Verlinkung auf letzthin veröffentlichte Arbeiten deuten diese Möglichkeit an. Allerdings ist ein «Medium ad personam» aus journalistischer Sicht ein Widerspruch in sich selbst. Medien, die diesen Namen verdienen, bedingen laufend die gemeinsame redaktionelle Anstrengung um Themen, Zugänge und Einschätzungen. Auch wenn Medien in der Öffentlichkeit schliesslich als Produkte einwegkommunikativ funktionieren müssen, sind sie das Ergebnis des vorangegangenen redaktionellen Diskurses.
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Das «Medium ad personam» ist demnach keine journalistische, sondern eine literarische Idee und entspricht dem Werk des Autors. Bis um 2000 war es so, dass solche Werke auf dem Markt mit den aktuellen Titeln und ansonsten in Bibliotheken greifbar waren und – gewöhnlich posthum – in herausragenden oder zumindest kommerziell interessanten Fällen mit einer «Gesamtwerk»-Ausgabe kanonisiert wurden.
Mit der technischen Möglichkeit von Büchern auf Abruf und e-books einerseits und mit dem Internet andererseits ist das Monopol der Verlage als Kanonisierungsinstanzen und der philologischen Editionstechniken als Methoden der Kanonisierung wenn nicht aufgehoben, so doch relativiert. Wer schreibt, kann nun sein «Gesamtwerk» nach Belieben selber edieren und öffentlich zugänglich machen. Nicht mehr Dritte, sondern der Autor selber präsentiert das, was er für bedeutend hält, und zwar in der von ihm für richtig befundenen Form. Kritisch kann eine solche Edition nicht sein, aber authentisch.
Unter gewissen Aspekten ist eine elektronische Edition der Printedition sogar überlegen: Je mehr durch Rubrizierung der Texte Kreuz- und Querzugriffe möglich und je mehr bestehende Bezüge zwischen einzelnen Texten durch Verlinkung evident gemacht werden, desto mehr entsteht – im Gegensatz zur Linearität der Printpräsentation – ein flächig rezipierbares Gebilde: ein Textfeld.
In der zeitlichen Perspektive rekonstruiert in meinem Fall das entstehende Feld mich selbst als Text, wobei dieser Prozess Fragment bleibt und noch stets fragmentarischer, ausfransender und unabschliessbarer wird, je mehr ich das Feld vollständig zu machen versuche. Seine schliesslich gültige Form gelingt nicht mir, sondern meinem Tod.
Aus literarischer Perspektive entsteht unter den Aspekten von Subjektivität und Selbstfiktionierung so eine Literarizität, die belletristischen Versuchen zwischen zwei Buchdeckeln zumindest nicht nachsteht. Die schöne Ironie: Diese Literarizität entstünde noch dann, wenn in der ganzen Text-«Werkstatt» kein einziger mit literarischer Ambition verfasster Text eingelagert wäre. Literarizität ist hier keine Frage sprachschöpferischer Kunst- oder Fiktionierungsfertigkeit, sie ergibt sich aus der Montage des Materials. Anders: Insofern hier eine Selbstrekonstruktion als Text stattfindet, werden die einzelnen journalistischen Texte zu Abschnitten eines autobiografischen Romans. Oder noch anders: Je mehr meiner Sprach-Blicke auf die Welt ich zugänglich mache, desto mehr wird das blickende Subjekt zur Fiktion – desto mehr verschwinde ich dahinter im Schweigen. Wenn das nicht schön ist.
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Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren habe ich im «geleit»-Wort zum Konvolut mit vulgärmarxistisch-dadaistischem Furor die Warenform des selbst verlegten Buches dementiert und behauptet: «wäre dieses konvolut ein ‘buch’, so wäre es nur zum preis von 0 franken verkaufbar, denn ein ding kann keinen wert darstellen, ohne einen gebrauchswert zu haben.» Weil ich damals den potentiellen Tauschwert des Buches am Markt nicht aus der Welt reden konnte, musste ich seinen Gebrauchswert bestreiten. Das war ein faktisch falsches, als poetischer Schein tapfer gegen jede Erfahrung behauptetes Argument.
Dank den Möglichkeiten des Internets kann ich diese Argumentation heute vom Kopf auf die Füsse stellen: Selbstverständlich haben Texte für jene, die sie freiwillig lesen, einen Gebrauchswert (sonst läsen sie sie nicht freiwillig). Umgekehrt bietet das Internet die Möglichkeit, den Tauschwert von Texten als Waren nachhaltig zu zerstören. Ein Text, der am Bildschirm gratis einsehbar und nach Belieben ausdruckbar ist, hat keinen Tauschwert mehr.
So gesehen entsteht in dieser Werkstatt – als Weiterentwicklung und Neuformulierung der «Konvolut»-Argumentation – ein auf 0 Franken abgeschriebenes Lebenswerk, von dem ich gerne annehme, dass es für jene, die es konsultieren, als Gegenleistung für ihren Zeitaufwand der Lektüre einen Gebrauchswert habe.
In diesem Sinn ist meine Website demnach eine entmilitarisierte Zone in der kapitalistischen Warenwelt. Gewidmet ist sie einer Utopie: der Überwindung des kapitalistischen Tauschwerts. – Klar: Genau genommen ist die Website bloss der Schein einer entmilitarisierten Zone in der kapitalistischen Warenwelt: Ein geheimdienstlicher Klick zum Beispiel würde genügen, um meine ganze Arbeit zu zerstören. Aber das bedeutet nur, dass «entmilitarisiert» noch nicht «befreit» heisst. (1.4.2015)