Fotos, die sprechen

Florian Aichers Arbeitstag beginnt um halb neun im Postzentrum des Binzquartiers in Zürich. Er packt die Postsendungen für die Tour in den Anhänger seines Töfflis und fährt ungefähr um viertel vor neun los Richtung Enge und Wollishofen. Mit dem Sortieren der Post habe er als Briefträger heute nichts mehr zu tun: «Die Arbeitsteilung nimmt laufend zu. Damit wird die Arbeit zwar monotoner, aber die Produktivität grösser», sagt er.

Die Tour dauert ungefähr bis ein Uhr mittags. «Zurzeit gibt es einen Stellenstop. Aber zuvor hat die Post seit längerem Briefträgerinnen und Briefträger nur noch zu 50 Prozent angestellt.» Der Grund sei klar: «So sind die Leute flexibler einsetzbar. Dazu bist du leistungsfähiger, wenn du pro Woche nicht 42 Stunden plus Überzeit unterwegs bist. So dient auch diese Flexibilisierung der Profitmaximierung.»

«Ohni ois lauft nüüt!»

Nachmittags arbeitet Aicher als Fotograf. Diesen Beruf hat er gelernt und betreibt ihn mit Leidenschaft, ohne davon leben zu wollen. Wie die Gewerkschaftsarbeit gehört auch die fotografische zu seinem politischen Engagement.

Schon als Jugendlicher ist er auf Willi Münzenberg (1889-1940) gestossen, der als Kommunist und Redaktor in den zwanziger Jahren in Berlin die «Arbeiter Illustrierte Zeitung» herausgegeben hat – eine Zeitschrift für die deutsche Arbeiterschaft. «Von Münzenberg habe ich gelernt, dass man das Leben der Arbeiterschaft dokumentieren muss. Weil viele Arbeitende wenig oder nicht lesen – damals wegen der fehlenden Bildung, heute oft wegen Sprachbarrieren –, ist die Fotografie dazu ein sehr gutes Mittel.» Ins Bild setzen, wie die Leute leben und dabei einfach und verständlich sein: «Das hat mich früh beschäftigt und immer wieder motiviert.»

2007 begann er unter dem Titel «Ohni ois lauft nüüt!» eine Fotoausstellung zu planen. «In der Schweiz sagen die Leute oft, heute gebe es keine Arbeiter mehr. Diesem Unsinn wollte ich etwas entgegensetzen, denn es sind ja auch heute die einfachen Arbeitenden, die die Gesellschaft am Laufen halten.» Aicher hat diese Ausstellung am 1. Mai 2008 im Zeughaus in Zürich gezeigt. Rund 1500 Personen wollten sie sehen.

Neue Ausstellung zum 1. Mai

Von verschiedener Seite ermuntert und unterstützt hat er nun für den diesjährigen 1. Mai eine neue Ausstellung vorbereitet. Er habe sich das aktuelle Thema der Krise vorgenommen und in schlaflosen Nächten überlegt, wie man ein derart abstraktes Thema in Fotografien umsetzen könne.

Unterdessen hat er seine Antwort ausgearbeitet. Die Ausstellung heisst «Krise, mir händ doch scho für d’Gwün zahlt!» und besteht aus gut vierzig grossformatigen Farbbildern in schlichten Holzrahmen mit kurzen Legenden. Die Bilder gliedern sich in drei Abteilungen. Zum einen ist eine Serie von inszenierten Kunstfotos zu sehen, die einen kleinen Fotoroman erzählen: Mit sechsstelligen Parteispenden hat die UBS viele Jahre lang die bürgerlichen Parteien geschmiert – mit einem zehnstelligen Betrag aus der Staatskasse haben die Parteien nun der UBS dafür Dankeschön gesagt. Sinnigerweise lässt Aicher auf den Fotografien die Akteure von Ospel bis Merz als leicht formbare Toggel aus Kinderknete auftreten. Die zweite Abteilung setzt gegen dieses Schmierentheater Porträtfotografien von Industriearbeitern und -arbeiterinnen, deren Arbeitsplätze durch die Krise stark bedroht sind. Die dritte Abteilung schliesslich besteht aus Aktionsbildern von Protestkundgebungen gegen die Krise.

Aicher stellt sein beachtliches Handwerk als gelernter Werbefotograf in den Dienst der Umsetzung einer «politischen Aussage, die möglichst viele Leute verstehen», wie er sagt. Daneben fotografioert auf Auftrag auch zum Beispiel auf Hochzeiten (www.artofax.ch).

Eine linke Kultur ist nötig

Florian Aicher findet es nicht geschickt, in textlastigen Flugblättern, die kaum jemand liest und versteht, die Welt zu erklären. Der Mensch bestehe nicht nur aus dem Gehirn. «Die SVP spricht zum Beispiel sehr geschickt die Gefühle der Menschen an. Sie setzt schlechte Aussagen gut um. Bei uns Linken ist es oft umgekehrt.»

Auf dem kleinen Balkon seiner Wohnung über einer stark befahrenen Ausfallstrasse im Kreis 3 sagt er: «Zum Kampf um unsere Interessen gehört auch eine linke Kultur. Wer Arbeiter ist, aber sich nicht als Arbeiter fühlt, wird sich weder organisieren noch seine Interessen durchsetzen können.»

 

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Lehrjahre in Nürnberg

Geboren 1978, aufgewachsen im Lochergut in Zürich. Mit 16 findet er keine Lehrstelle, zieht zu Hause aus und beginnt zu jobben: Koch in der Gassenküche, Gerüstbauer, Layouter bei der Wochenzeitung (WoZ), halbjährige Ausbildung zum Internetpublisher, Intranet-Mitarbeiter bei der Credit Suisse. Als Reporter von Radio Lora verfolgt er 2001 die Arbeitskämpfe im Adtranz-Konzern, zuerst in der Schweiz, dann in Nürnberg. Dort findet er seine heutige Partnerin. Befristet arbeitet er in der Waschmaschinenproduktion der AEG am Fliessband.

Es folgt die dreijährige Berufsausbildung zum Werbefotografen. 2006 ein Jahr als Leiharbeiter im europäischen Logostikzentrum von Siemens. Ende 2007 kehrt er mit seiner Partnerin nach Zürich zurück und arbeitet seither zu 50 Prozent als Briefträger im Kreis 2 (Nettoverdienst im Monat: 1960 Franken).

Aicher ist Präsident der Zürcher Briefträger in der Gewerkschaft Kommunikation, zudem Comedia-Mitglied und Personalkommissionsmitglied im Postzentrum Binz. In Deutschland war er zuerst Mitglied der IG Metall, später der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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