Die Radikalen sterben nicht aus

Zu Zürichs drei unruhigsten Nächten des 20. Jahrhunderts gehören zweifellos jene vom 16. auf den 17. November 1917, jene vom 29. auf den 30. Juni 1968 und jene vom 30. auf den 31. Mai 1980. Die erste Nacht ging als «Novemberkrawall» in die Geschichte ein, die zweite als «Globus-Krawall» und die dritte als «Opernhaus-Krawall». Bilanz der ersten: Nach heftigen Strassenschlachten mit Barrikaden 4 Tote – drei Arbeiter und ein Polizist –, über hundert Verhaftete, darunter 44 Mitglieder der «Sozialistischen Jugendorganisation» (SJO). Bilanz der zweiten: 169 Verhaftete, 41 Verletzte (15 Polizisten, 7 Feuerwehrleute, 19 Demonstrierende), dazu massive Sachbeschädigungen. Bilanz der dritten: Strassenkämpfe mit Barrikaden, Zerstörungen und Plünderungen, 17 Verhaftete; 10 Polizisten und eine unbekannte Anzahl DemonstrantInnen werden verletzt, der Kreis-Chef 1 der Stadtpolizei stirbt an einem Herzversagen.

In allen drei Nächten waren es radikale Jugendliche, die mit weit ausstrahlenden Aktionen gewaltsam Geschichte schrieben. Bloss: Was heisst «radikal»? Und was «Jugend»?

Das Zeitalter der träumenden Jugend

«Jugend» als soziokulturelles Phänomen, das gekennzeichnet ist durch die Adoleszenz, durch Aufbruchs- und Widerspruchsgeist, Persönlichkeitskrisen und Suche nach Identität, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Grund: Erst als junge Menschen von der lebenserhaltenden Arbeit befreit wurden und vor dem Berufseinstieg Schulungen und Ausbildungen machten, entstand jene Übergangszeit, in der ihnen die Spannung zwischen utopisch-unentfremdetem Leben einer idealen Welt und der herrschenden Realität überhaupt bewusst werden konnte.

Entsprechend war «Jugend» zuerst eine Klassenfrage: ein Oberschichtsphänomen, das allmählich zum allgemeinen wurde. In seiner Studie über die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz diagnostiziert Andreas Petersen noch für den Zeitraum von 1900 bis 1921, dass «der schichtspezifische Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Jugendphase gravierend» sei. Insbesondere die vor 1910 von Deutschland her die Schweiz erfassende Wandervogelbewegung rekrutierte sich aus bürgerlichem Milieu, «zumeist aus dem Bildungsbürgertum». Im Gegensatz zu diesen jungen IdealistInnen, die sich für ein «Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit» einsetzten, bedeutete die Adoleszenz in Arbeiterkreisen die Integration in den Arbeitsprozess. «Jugend» blieb also klassenspezifisch stark an die Herkunft zurückgebunden, auch wenn Petersen mit einer Untersuchung von Familienverhältnissen und Arbeitsbedingungen den Nachweis führt, dass proletarischen Jugendlichen damals bereits eine zunehmend «breite Palette individueller Lebensentwürfe» zur Verfügung gestanden habe.

Seit dem Zweiten Weltkrieg spielt die schichtspezifische Zusammensetzung bei Jugendzusammenschlüssen keine grosse Rolle mehr. Heinz Nigg konstatiert in dem von ihm herausgegebenen Materialienband zur «Achtziger Jugendbewegung»: «Schichtzugehörigkeit, Familienverhältnisse und die von Eltern und Geschwistern vermittelten Werteinstellungen könnten bei den von mir befragten BewegungsaktivistInnen nicht unterschiedlicher sein.» Bemerkenswert ist hierzu im gleichen Buch der Hinweis von Leonhard Fünfschilling, der sich 1980 als Präsident der stadtzürcherischen SP um die Vermittlung zwischen den Stadtbehörden und der Bewegung bemüht hat: «Im Gegensatz zur 68er-Bewegung, die von Intellektuellen getragen worden war, hatte die Achtziger Bewegung wenig Drähte zum Establishment oder zur Kultur.» Dieser Hinweis könnte bedeuten, dass sich der Protest – in den zehner Jahren primär von klassenbewussten proletarischen und 1968 von bildungsprivilegierten (klein)bürgerlichen Jugendlichen vorgetragen – bis 1980 vollständig verkleinbürgerlicht hat.

Auch unter dem Geschlechteraspekt verschiebt sich die Bedeutung des Begriffs «Jugend». Im Bildband zur sozialistischen Arbeiterjugend Zürich von 1926 bis 1940 konstatiert Urs Kälin: «Während die sozialistisch ausgerichtete Jugendbewegung zu Beginn des Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg überwiegend aus männlichen Mitgliedern bestand, erfassten die in den zwanziger Jahren neu entstandenen Gruppen vermehrt Jugendliche beider Geschlechter. Etwas mehr als ein Drittel waren Mädchen.» 1968 begann danach die «Neue Frauenbewegung» die quantitative Emanzipation zu erstreiten – und seit Mitte der achtziger Jahre die «autonome Frauenbewegung» vermehrt auch die qualitative, wie Caroline Bühler in ihrem Beitrag in Niggs Buch aufzeigt: Kritisiert werden nun zum Beispiel auch «Macho-Gehabe» und der «Panzer der Coolness» bei den männlichen Mitstreitern; gefordert wird von ihnen insbesondere «nicht-sexistisches Gesprächsverhalten, Selbstreflektion und mehr Verbindlichkeit».

Von der System- zur Kulturkritik

In seiner Untersuchung arbeitet Andreas Petersen die Faktoren der jugendlichen Radikalisierung heraus, wobei er den untersuchten Zeitraum in drei Phasen gliedert. In der ersten Phase (1900-1907), die er als «jugendpflegerisch» bezeichnet, wächst um den sozialistischen Aussersihler Arbeiterpfarrer Paul Pflüger eine im «Jungburschenverein» organisierte Jugendszene, die sich vor allem für Vortrags- und Diskussionsabende, Wanderungen, Ausflüge und Feste interessiert.

Ideologischer Kopf der zweiten, «jugendbewegten» Phase (1907-1914) ist der anarcho-syndikalistische Arzt Fritz Brupbacher. In dieser Zeit verabschiedet sich die 1906 gegründete SJO von der Idee reformerischen Wirkens für das Gemeinwohl und begeistert sich zunehmend für Brupbachers Konzept eines «Kultursozialismus», das weniger zwischen Besitzenden und Besitzlosen als vielmehr, so Petersen, zwischen «Kulturmenschen und ‚seelenlosen Spiessern‘» unterscheidet. Unter der Leitung des fulminanten Organisators Willi Münzenberg wächst die SJO von 14 Sektion mit 420 Mitgliedern 1910 auf deren 53 mit 994 Mitgliedern 1914. Die Jugendlichen beginnen sich an Streiks, an Auseinandersetzungen mit Streikbrechern und militanten Demonstrationen zu beteiligen.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, der mit einiger Verzögerung auch in der Schweiz die soziale Not anwachsen lässt, setzt die dritte, «politische» Phase ein. Der Radikalisierungsprozess geht weiter, zuerst unter dem pazifistischen Einfluss des sozial-religiösen Theologen Leonhard Ragaz, danach unter jenem Lenins, der damals kurze Zeit in Zürich lebt und die Jugendlichen von der Notwendigkeit des gewaltsamen Umsturzes als Voraussetzung für die Diktatur des Proletariats zu überzeugen versucht. Auf dem Höchststand umfasst die SJO 1917/18 etwa 3000 Mitglieder in 164 Sektionen. Die zunehmende Militanz führt aber ab 1917 zu Spaltungen innerhalb der Organisation, die unterdessen zum linken Flügel der SP avanciert ist. Die Radikalen setzen sich durch, die Gemässigten ziehen sich zurück: Im Frühjahr 1921 schliesst sich die SJO der Kommunistischen Partei an und verlieren danach ihre politische Selbständigkeit sofort: An einem Kongress der Kommunistischen Jugendinternationalen in Moskau wird die Schweizer Vertretung noch im gleichen Frühjahr für «autonomistische Strömungen» gerügt und dafür, «die Forderung der ‚politischen Selbständigkeit‘ grundsätzlich vertreten» zu haben. Eine neue Jugendorganisation der SP Schweiz –der Kälins Fotoband gewidmet ist – wird im März 1926 gegründet.

Steht zu Beginn der zwanziger Jahre für die Jugendlichen der systemkritisch-politische Protest im Zentrum, wird ab den fünfziger Jahren neben diesem ein zweiter zunehmend wichtig, den man als kulturkritisch-lebensweltlichen bezeichnen könnte. Darum gibt es 1968 nebeneinander zwei ganz verschiedene Visionen, wie der Kapitalismus zu überwinden sei: durch Angriff auf «das Kapital» und seine «Lakaienstaaten» oder durch Ausstieg aus dem System und die grosse Verweigerung? mittels Kommunismus, den es nach dem Sturz der «Ausbeuterklassen» aufzubauen gelte oder mittels anarchistischer respektive autonomistischer Staatsüberwindung? durch revolutionären Militarismus oder «love & peace» der Hippies und Freaks?

1980 schliesslich stand der kulturkritisch-lebensweltliche Protest im Zentrum. Den RevolutionsveteranInnen von 1968 erschienen die Ziele der neuen Bewegten – in den Worten des Politologen Hanspeter Kriesi in Niggs Buch «Selbstbezogenheit, Selbstfindung, Überwindung der Entfremdung von sich selbst in einer total verwalteten Welt» – als Ausdruck der Perspektivelosigkeit von wild gewordenen Kleinbürgern. Gegen diese Interpretation kann allerdings eine andere gestellt werden: Die Ideologien hinter dem Radikalismus der Jugendlichen haben sich im 20. Jahrhundert von der kruden Systemkritik nach und nach auf die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt und auf Fragen wie jene nach der eigenen Identität ausgedehnt. Mögliche Thesen zu diesen Verschiebungen in der Bedeutung von Radikalität wären: Die Bedeutung des Begriffs verändert sich, weil immer mehr zuvor Privates politisch wird. Oder: Sie verändert sich in dem Mass, in dem die Konnotation des Begriffs von Frauen mitgetragen wird.

Die drei Bücher von Petersen, Kälin und Nigg bieten Unterhaltung, Information und Anregung zum Nachdenken über das Phänomen der «radikalen Jugend», das aktuell bleiben wird, solange es Gesellschaften gibt, die ihren Jugendlichen eine Phase der «Jugend» zugestehen. Ist nicht das Erste, was ein junger Mensch in den Blick bekommt, wenn er hinzuschauen und nachzudenken beginnt, das Labyrinth der schreienden Widersprüche und Lebenslügen, das den Untergrund der gesellschaftlichen Normalität bildet? Wer in seinem Leben nie vor der Frage gestanden ist, wieso man sich zum Rädchen machen lassen soll in der Maschine, die den Schein dieser hirnrissigen Normalität immer neu schafft, hat seine Jugend verpasst – und wer sich danach sofort widerspruchslos zum Rädchen machen liess, seine jugendliche Radikalität.

 

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Schweizer Protestkulturen

 

Die Bücher von Andreas Petersen, Urs Kälin und Heinz Nigg präsentieren formal und inhaltlich sehr unterschiedliche Facetten der Deutschschweizer Jugendprotestkultur im 20. Jahrhundert. Petersen schreibt im historischen Hauptteil seiner Dissertation die Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung von 1900 bis in die zwanziger Jahre und entwickelt anschliessend an diesem Material seine generationentheoretischen und radikalisierungsanalytischen Thesen, deren desillusionierendste lautet: «Vermeintlich autonomjugendliches Emanzipationsstreben hat mannigfaltige Vorbedingungen, subtile Hemmnisse und Grenzen und entpuppt sich bei genauer Untersuchung als reaktives Nachstossen in Freiräume, die den Heranwachsenden – ohne ihr Zutun – von der Gesellschaft eröffnet werden.»

Im Zentrum von Urs Kälins bemerkenswert schön gemachtem, grossformatigen Band steht die Geschichte der sozialistischen Arbeiterjugend Zürich zwischen 1926 und 1940. Die kurz gehaltenen Texte verbinden die grossen Bildblöcke, die mit Fotografien und in Farbe reproduzierten schriftlichen Dokumenten aller Art das Leben dieser Jugendbewegten unter verschiedenen Aspekten – zum Beispiel «Bildung und Freizeitgestaltung», «Geschlechterfrage» oder «Antimilitarismus» – illustrieren.

Heinz Niggs Sammelband schliesslich ist ein Materialiensteinbruch zur «Achtziger–Jugendbewegung». Die erste Hälfte des Buches dokumentiert die letztjährige Berichterstattung der Zeitungen über die zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse. Unter anderem findet sich hier die integrale Dokumentation von Niggs vierzehnteiliger Interview-Serie, die ab Nummer 15/2000 in der WoZ erschienen ist. Den zweiten Teil des Bandes bilden Faksimiles von Dokumenten, wissenschaftliche Beiträge, Chronologien zu den Ereignissen in den verschiedenen Schweizer Städten und im Ausland, Hinweise auf weitere Materialien und eine Bibliografie. Beigelegt ist eine DVD-Scheibe, die Ausschnitte aus Bewegungsvideos dokumentiert.

Andreas Petersen: Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930. Radikalisierungsanalyse und Generationentheorie. Zürich (Chronos Verlag) 2001. 

Urs Kälin: Leben heisst kämpfen. Bilder zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterjugend Zürich, 1926-1940. Zürich (Chronos Verlag) 2001. 

Heinz Nigg (Hrsg.]: Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen (mit DVD). Zürich (Limmat Verlag) 2001.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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