Dampfzentrale überraschend eröffnet!

Tausend Leute besetzten letzten Freitagabend [8. Mai 1987, fl.] für eine Nacht die «Dampfzentrale» auf dem Berner Gaswerkareal, die nach dem Willen der Obrigkeit ab Sommer als Gewerberaum für «professionelle Kulturschaffende» dienen soll.

«Werte Macht, wir sind ausgegrenzt, Eurem Gott sei Dank. Einmal mehr sind wir Euch erschienen, um zu markieren. Das Unterhund hebt sein Bein. Genüsslich pisst es Euch ans Alibi.» Am Freitagabend punkt Acht waren die Unterhunde der Berner Kulturszene, die Gruppe «Dampf (de-zentral»), vor der Dampfzentrale. Und siehe, die Türe öffnete sich, in Windeseile bauten sich Bars und Musikgruppen auf und herzu strömte, wen die Mundpropaganda erreichen konnte: Hunderte, die einen lockeren Abend ohne Polizeistunde wollten; Hunderte, die Rock hören wollten von «Excuse» und «Pearl Drops», von «Plonkies im Limbo» und «Napalm farmers»; Hunderte die die UV-Jongliershow von Ändu Flückiger und seiner Musikergruppe miterleben wollten.

Als gegen Mitternacht plötzlich der SP-Gemeinderat Alfred Neukomm durch die gutgelaunte Festgemeinde Richtung Mikrofon irrte, fühlte sich unsereiner bereits wie Zuhause: «INSTANDBESETZT 8.5.87», «AJZ FÜR ALLE», «AJZ SUBITO»: Sprays schaffen Klarheit. Wie es sich für einen richtigen Sozi gehört, überbrachte Neukomm das Ultimatum jener, die ihn dafür ein wenig mitregieren lassen, um halb eins werde von der Polizei geräumt. Dieser Auftritt wurde – wie die Meldung, Gemeinderat Marco Albisetti leite den Polizeieinsatz vor dem Haus persönlich, wie die späteren Verlängerungen des Ultimatums bis 02.00 Uhr und später bis noch später – mit durchwegs freundlicher Nachsicht auf-, aber keineswegs ernst genommen. So wurde die Eröffnung der Dampfzentrale zum vollen Erfolg.

Selbstverständlich hat die Polizei tags darauf die Dampfzentrale verbarrikadiert und den Strom abgestellt. Denn hier ist «kein hobbymässiges Kultur-Jekami» (Noch-Kultursekretär Peter J. Betts) vorgesehen.

«In der Dampfzentrale hält sich die städtische Elitekultur ein paar HofnärrInnen. Etablierte professionelle KulturfabrikantInnen, die dürfen ruhig ein bisschen Avantgarde versprühen, werden in diesem Entsorgungspark zum Vorzeigen endgelagert. Die Stadt tut etwas für Ihre Kultur und Ihre KünstlerInnen. Mit hündischem Grinsen. Beilagen erwähnt.»

Unter Verwendung eines am Eröffnungsabend verteilten Flugblatts mit dem Titel «JE-KA-MI in der Dampfzentrale».

Am 4. September der gleichen Jahres vermeldete die WoZ in Nr. 36 / 1987:

«Dampf dezentral»

Esra Thormann, Bernhard Suter und Martin Mühlethaler von der Gruppe «Video Stadt» haben über die Besetzung der Dampfzentrale in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai (siehe WoZ 20/1987) einen informativen Videofilm zusammengestellt. «Das halbstündige Video entstand in spontaner Zusammenarbeit mit den Organisatoren der illegalen Musiknacht und wird als Diskussionsbeitrag zu städtischen Kulturpolitik verstanden», schreiben die Videomacher. 

Kontakt: Video Stadt, Münstergasse 39, 3011 Bern.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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