Brainstorming zu einer Kulturdebatte

Mögliche Themenkreise für die Kulturdebatte 700 – Brainstorming.

Der Kulturboykott 700 hat sich entzündet an der Staatskrise, die mit Begriffen wie Schnüffelstaat und Fichenskandal umrissen ist. Diese Krise war zwar der Auslöser, kann aber nicht der einzige Grund sein für den Kulturboykott der 700-Jahr-Feier. Der Grund für diesen Boykott ist die Situation der Kulturschaffenden in diesem Land, die Fragen nach ihrer Funktion, ihren Arbeitsbedingungen, ihren Zielen, die Frage nach diesem Staat.

Deshalb muss dem Kulturboykott 700 jetzt die Kulturdebatte 700 folgen. Um die Leitlinien dieser Debatte festzulegen, schlage ich die Schaffung eines Beirats vor (vgl. Antrag für die Sitzung vom 28. Juni 1990). Vorderhand stelle ich hier einige Ideen zusammen, um zu zeigen, wie breit und umfassend eine solche Debatte sein könnte.

Es ist klar, dass die Kulturdebatte 700 mit verschiedenen Mitteln geführt werden kann, einerseits «direkt» mit den Mitteln der künstlerischen Praxis, mit der Produktion von Kunst, andererseits «indirekt» mit Theorie, mit Kulturkritik, mit Reflexion über Kunst.

Neben diesen zwei inhaltlichen Ebenen muss parallel dazu die Diskussion um Formen und Strukturen geführt werden: Hier wird nach den selbstbestimmten Rahmen ausserhalb der 700-Jahr-Feier und in einem weiteren Sinn nach (spartenübergreifender) wirkungsvoller Darstellung und Organisation des (schweizerischen?) Kulturschaffens in den 90er Jahren zu fragen sein.

Inhaltlich sehe ich fünf Themenkreise.

1. Der innenpolitische Themenkreis: Der leergeglaubte Staat

Schnüffelstaat und Fichenskandal, die Schweiz der Banken, Asylproblematik, Sozialabbau, ökologische Bedrohungen, Westsieg des Kalten Kriegs. Solche Stichworte umreissen die Situation, die in den 80er Jahren zu einem beschleunigten Wertezerfall in diesem Land geführt haben. Dagegen stellen staatliche Stellen - unter dem Motto 700-Jahr-Feier - einen neunstelligen Betrag zur Verfügung: Die zerfallenden Werte sollen mit ideologischem Fast food überdeckt werden. Für die Kulturschaffenden soll gelten: Statt internationaler Solidarität interkantonale Solarität.

Wo stehen die Kulturschaffenden in dieser Situation? Was tun sie? Wo engagieren sie sich? Was sind ihre Perspektiven? Wie organisieren sie sich?

2. Der aussenpolitische Themenkreis: Die abgeschaffte Schweiz

«700 Jahr sind genug», hat Hans Saner gefordert. Immer deutlicher zeigt sich: Diese Forderung wird getragen von einer unheimlichen Allianz. Einerseits von der kritischen Intelligenz und ihrer Enttäuschung über die unübersehbaren Zerfallserscheinungen des hochgelobten politischen Systems, das alternativlos scheint; andererseits von den VertreterInnen des Kapitals, für die «unsere Souveränität» - noch letztes Jahr zur Rettung der Armee für unabdingbar befunden - in diesem Jahr im Hinblick auf den entstehenden Europäischen Wirtschafts-Raum (EWR) endgültig obsolet geworden scheint. «Es könnte ja, langfristig gesehen, durchaus um die Frage gehen, ob die Schweiz noch ein Existenzrecht haben kann in einem zentralistisch regierten Europa, wo es keine Staaten, nur noch Regionen geben wird.» (Kurt Marti, ZEITSCHRIFT 2/90)

Ist in dieser Situation das Diktum «700 Jahr sind genug» genug? Wir «die Schweiz» nicht wegen, sondern trotz Saners Diktum obsolet? Welchen Einfluss haben der EWR und der Niedergang der sozialistischen Staaten in Osteuropa auf das Kunst- und Kulturschaffen in der Schweiz (ökonomisch und inhaltlich)? Ist die Schweiz in den 90er Jahren noch ein Thema? Wenn nein, was dann? Ist die Auseinandersetzung mit dem hiesigen ideologischen Beton, an dem sich Generationen der Besten abgearbeitet haben, unverhofft (und unverdientermassen) zu Ende, ermöglicht von Machtstrukturen, mit denen verglichen Macht und Widerstand in diesem Land gleichermassen vernachlässigbare Faktoren sind?

3. Der ökonomische Themenkreis: Der verinnerlichte Holzboden

Ohne Geld läuft in der Kunst- und Kulturproduktion nichts. Aber Kunst- und Kulturproduktion ist eine defizitäre Branche, die nur dank Selbstausbeutung von weitgehend rechtlosen und schlechtorganisierten HeimarbeiterInnen überhaupt funktioniert. Die ökonomische Misere und Rechtlosigkeit ist zwischen Kulturschaffenden ein Tabu, nicht zuletzt weil ein ehernes Gesetz hiesiger Arbeitsethik sagt: Wer gut arbeitet, verdient auch gut. Deshalb tragen die allermeisten Kulturschaffenden in diesem Land an der dumpfen Vermutung, dass sie eigentlich schlechte Kulturschaffende seien. Daraus ist eine Kulturproduktion geworden, deren  herausragende Merkmale Zaghaftigkeit, Selbstzerfleischung, Klage sind. Ein anderes Kulturschaffen braucht ein anderes Selbstverständnis, unter anderem also eine andere ökonomische Basis.

Wie steht es mit dem neuen Urheberrecht, das statt Rechte Almosen verspricht (im Oktober zum nächsten Mal in der vorberatenden Kommission des Ständerates)? Wie stehen die Kulturschaffenden zum Sponsoring; ergibt das Diktat der «Ware Kunst» wahre Kunst? Wie stehen die Kulturschaffenden andererseits zur Subventionskultur, diesem Pflanzplätz der Durchschnittlichkeit? Wie leben Kunst- und Kulturschaffende hier und heute real?

4. Der soziologische Themenkreis: Der totale Kulturrummel

Die Rede ist von «postindustrieller Gesellschaft», von «multikultureller Gesellschaft»,von «Freizeitgesellschaft», von «Kulturgesellschaft». Je mehr Freizeit die Leute haben, desto grösser wird der Freizeitmarkt, Kultur wird gemacht für die Freizeitzerstreuung. Die auf ihren nächsten Arbeitseinsatz Wartenden werden ausgebeutet und gesteuert. Kulturindustrie als gesellschaftlich organisierter Hobbyersatz nach der Devise: Die Menschen fernhalten von eigener Aktivität! (Wer nichts tut, muss nicht einmal überwacht werden.) «Ist nicht gerade der Kulturbetrieb ein probates Mittel, uns abzulenken vom Elend, von den ernsten Problemen und Konflikten unserer Zeit und Welt?» (Christian Rentsch: «Vorwärts in die Kulturgesellschaft?», TA 4.7.88). Darüberhinaus: Kulturproduktion, die immer mehr in die Privatsphäre der Einzelnen einzudringen versucht und ihren Anspruch auf öffentliche Kommunikation immer deutlicher aufgibt. Überhaupt: der Zerfall von Öffentlichkeit und die Verantwortung des Kulturschaffens daran.

Wem dient die Arbeit der unbedarft vor sich hinwurstenden Kulturschaffenden hier und heute eigentlich? Welche Funktion hat ihre Arbeit; wie hat sich diese Funktion in den letzten Jahren verändert? Wieviel und welche Kultur ist über-haupt wünschbar/notwendig? Und wer bestimmt das? Gibt es noch eine Öffentlichkeit für das Kunst- und Kulturschaffen? Und was, wenn es keine mehr gäbe?

5. Der ästhetische Themenkreis: Absturz in die Postmoderne

Die Debatte um die Postmoderne ist unter anderem auch eine ästhetische, die Stichworte «anything goes», «neue Unübersichtlichkeit», «Beliebigkeit» haben zweifellos ihre ästhetische Relevanz.

Welche Funktion hat hier und heute das Kunstwerk: eine werte-bildende (ideologische) oder eine wertekritisierende (emanzipative)? Was kommt nach dem Niedergang der Avantgarde-Bewegungen der Moderne? Eine pseudo-populäre Kunst, die doppel- und mehrfachcodiert ist, trivial und gelehrt in einem, abgebrüht und unangreifbar? Welche Möglichkeiten bestehen überhaupt noch für das Projekt der Aufklärung in der Kunst? Was bedeutet dieses Projekt, was andererseits die Postmoderne für das Handwerk, für den Umgang mit dem Material, für Form, Inhalt, Rahmen?

18.6.1990, Fredi Lerch 

Die Funktion dieses Textes erschliesst sich aus einem Brief, den ich am 10. August 1990 an die KollegInnen des Kulturboykott-Komitees geschrieben habe: «An der Vorbereitungssitzung vom 12. Juli zum Kultursymposium ist beschlossen worden, dass ich das Themenpapier vom 18. Juni (zu Handen Kulturboykott-Komitee) soweit überarbeiten soll, dass es zu gegebener Zeit öffentlich verwendet werden kann.» Dass ich massgeblich am Text weiterformuliert habe, ergibt sich daraus, dass sich in meinem PC sechs Versionen erhalten haben (vom 18. Juni, vom 10. August, zwei verschiedene Versionen vom 28. August, vom 31. August und vom 11. September) –, allerdings die gedruckte Fassung nicht, was darauf hinweist, dass die Schlussredaktion nicht bei mir lag.

Der hier dokumentierte Text war demnach die erste Diskussionsgrundlage für das, was schliesslich zur kollektiv verfassten Einladung zum «Kultursymposium 90» in der Roten Fabrik und im Schauspielhaus Zürich am 3./4. November 1990 geführt hat. Wer sich die Mühe nimmt, per Textvergleich festzustellen, welche Gedanken sich in welchen Formulierungen schliesslich in der gedruckten Einladung erhalten haben, kann auf den Diskussionsprozess der damaligen Kulturboykott-Szene rückschliessen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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