Der Schatz im Beatenberg

Zum Journal B-Originalbeitrag

Der Schriftsteller Urs Mannhart war viele Jahre lang Velokurier in Bern, lebt heute in La Chaux de Fonds und sagt von sich, er hoffe «auf einen gesellschaftlichen Wandel hin zur Suffizienz». Der Protagonist in seinem neuen Roman kommt aus einer anderen Welt: Er heisst Pascal Gschwind, ist 39, Senior Chief Business Network Communications des weltweit tätigen Rohstoffkonzerns Valnoya mit Sitz in Aarau, lebt in einer Villa mit Seeanstoss in Oberhofen und ist ein Mann, der sich zum Beispiel fragt, «was das pausenlose Zirpen den Grillen eigentlich bringt».

Rapacitanium: der Öko-Thriller

Gschwind ist von Sambia bis Peru rund um die Welt unterwegs, um Luftverschmutzungen und andere Umweltschäden kleinzureden, die sein Arbeitgeber beim Rohstoffabbau verursacht. Und denkt er zwischenhinein ans Berner Oberland, dann nicht zuerst an seine Familie in Oberhofen, sondern an die für Valnoya sensationelle Neuigkeit: In einem eben entdeckten grossen Raum des Höhlensystems unterhalb Beatenberg hat man hochwertiges Rapacitanium gefunden, jene Seltene Erde, die den Bau von elektrischen Batterien revolutioniert hat und bisher nur in China abgebaut wird.

Bereits sagt Gschwinds Chef, Valnoya-CEO Daniel Hillers: «Es sieht schwer danach aus, als könnten wir den ganzen Berg abbaggern.» Gschwind besucht Samuel Sommer, jenen einsamen, verarmten Bergbauer in Beatenberg, der nicht weiss, welches Vermögen sich unter seinen Kuhweiden verbirgt. Und bald gibt der Kanton Bern grünes Licht für Sondierbohrungen hinunter bis in 1700 Meter Tiefe, obschon der Erdbebendienst warnt und eine Volksinitiative das Moratorium für den Rapacitanium-Abbau fordert.

Die Kalbacher AG nimmt die Bohrungen auf und kurz darauf enthüllen Whistleblower, dass sie das nicht mit den «allgemein üblichen Bohrern im Durchmesser von 75, sondern von 250 Millimetern Stärke» tut und das so zusätzlich gewonnene Gestein gegen Entgelt an die Valnoya zur Analyse weitergibt. Hillers wird wegen dieses Skandals als CEO freigestellt und später in U-Haft gesetzt. Gleichzeitig beginnt die Natur zurückzuschlagen: Der Thunersee verliert in einem Mass Wasser, das nicht durch die klimawandelbedingte anhaltende Trockenheit erklärt werden kann, dann wird die Region Luthernbad nördlich des Napfs von einem Erdbeben erschüttert, und kurz darauf beginnt der Sempachersee zu überlaufen.

Diese Geschichte ist gleichzeitig Thriller und Parabel. Sie spannt den Bogen zwischen einem durch unendliche Geldmittel gemeingefährlich gewordenen technologischen Machbarkeitswahn auf der einen Seite und der Natur, die zurückzuschlagen beginnt, weil die politischen Behörden unter dem Druck der Konzerne chancenlos geworden sind, ökologisch verantwortet zu handeln. (Das Wort Rapacitanium verweist übrigens auf «rapacité», also Habgier.)

Kapitänin auf Grund: der Familienroman

Aber mit dieser Konstruktion gibt sich Urs Mannhart bei weitem nicht zufrieden. Als zweite Ebene montiert er die private Welt seines Protagonisten Gschwind in den Roman: Gezeigt wird dessen Frau Rina, die, meist allein in Oberhofen sitzend, sich in ihren Nachbarn verliebt, was den eifersüchtigen Gschwind zu einer verhängnisvollen Sachbeschädigung veranlasst. Gezeigt wird Gschwinds Sohn Levin, der das Gymnasium schmeisst, um mit der Tochter jenes Nachbarn in einem Wald bei Sigriswil die ökologische Schule «Back to the Fruits» zu gründen, die «dem ressourcenverschlingenden Irrsinn unserer Zeit endlich ein Ende» bereiten soll. Dann sind da Gschwinds Eltern Paul, der «kleine Stoiker», und vor allem Barbara, «die dienstälteste Kapitänin der schweizerischen Binnenschiffahrt», die die Ehre hat, auf dem Thunersee die Jungfernfahrt mit der neuen «Queen oft the Alps» zu machen. Wegen des unerklärlich niedrigen Wasserstands setzt sie das Schiff vor der Anlegestelle Beatenbucht auf einen Felsen und verliebt sich anschliessend in der Burnout-Klinik von Lavin in Fausto. Und dann gibt es noch die Grossmutter Gerta in Unterseen, die nach dem Tod ihres Mannes nun mit Jonas, einem künstlerisch veranlagten jungen Freak zusammenlebt.

Zu diesen beiden eng verwobenen Ebenen des Romans klingt sozusagen als Cantus firmus immer wieder Gschwinds schlechtes Gewissen an, dass er sich vor der Untersuchung im Magnetresonanztomographen drückt, die ihm seine Hausärztin dringend empfohlen hat, weil bei seinem im Alltagsstress dauernd auftauchenden Schwindel mit Ohrensausen die Diagnose Morbus Menière nicht auszuschliessen sei.

Der ächzende Webstuhl ist ein unbequemer Spiegel

Dass daneben Chinesen in Beatenberg damit begonnen haben, «erstklassige, reine Schweizer Bergluft» in Flaschen nach China zu exportieren; Gschwind mit seiner Tesla die längste Zeit mit 1,25 Millionen Franken in Tausendernoten durch die Schweiz fährt (bis ein grosser Fels aufs Auto fällt) und mit der Zeit die Stadt Thun in Schutt und Asche liegt, sei hier nur en passant erwähnt.

Kein Zweifel: Urs Mannhart ist ein Autor, der eine grosse Phantasie und die Fähigkeit hat, private und gesellschaftspolitische Felder engmaschig zu verweben und literarisch zu gestalten. Aber der Roman zeigt auch, dass der Autor so vieles anzusprechen und zu verknüpfen versucht, dass es ab und zu knirscht im Gebälk der Konstruktion: Viele Motive – von Gschwinds schwierigem Verhältnis zu seinem geliebtem Sohn bis zu Luftschadstoff-Messungen im peruanischen Cerro de Pasco, die im Firmeninteresse manipuliert werden sollen – werden zwar exponiert, aber nicht durchgeführt. Immer wieder geht Angesprochenes in der Flut der neuen Einfälle unter. Kein Wunder, dass Mannhart am Schluss des Romans einen Deus ex machina erscheinen lassen muss, um die scharfe Abzweigung zum zynischen Happy End nicht zu verpassen.

Aber auch das ist noch nicht alles: Es gibt Seiten in Mannharts Roman, die machen einem das Atmen schwer, weil der Text das unpolitikabel Gewordene, das Zynische in einer Art vorführt, die immer auch darauf verweist, dass man selber wegen des eigenen, bequemen Opportunismus mitverantwortlich geworden und der Point of no return möglicherweise schon überschritten ist. Urs Mannharts Roman ist ein Erlebnis – und zwar eines, an dem man sich inhaltlich und formal reiben kann. Ja, vielleicht reiben soll.

Urs Mannhart: Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen, Berlin (Secession Verlag) 2021.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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