Von Schreinern und Schreibern

Zu so hohen Ehren hat es der Schriftsteller René E. Mueller (1929-1990) ein Leben lang nicht gebracht. Betritt man den Saal der «brotlos?»-Ausstellung in der Landesbibliothek, prangt an einer Wand sicher fünf Meter über den Vitrinen und Stellwänden in grossen Lettern der Zweizeiler, der Dutzende seiner Bettelbriefe aus seinem Gammlerexil Formentera krönte: «Ich stehe hier am Mittelmeer / und habe keine Mittel mehr». (Historisch-kritisch ist anzumerken, dass der Autor in Varianten der ersten Zeile auch sitzt oder liegt.)

Schreibkunst ist Überlebenskunst

Die Ausstellung «brotlos?» ist zeitlich abgestimmt auf das Hundert-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Schillerstiftung, die 1905 gegründet worden ist, um dort «schützend und lindernd» einzuschreiten, wo «Not und Sorge an die Tür des schweizerischen Dichters klopfen». Die Ausstellung widmet sich diesem altbekannten Elend: Zwar ist die Schreibkunst überall auf der Welt auch eine Überlebenskunst, in der Schweiz ist sie aber speziell erschwert durch die Kleinheit der vier sprachregionalen Buchmärkte. Anders als in Deutschland, Frankreich oder Italien haben hier auch leidlich erfolgreiche Autorinnen und Autoren keine Chance, längerfristig von ihrer Arbeit leben zu können. Insofern gibt es in diesem Land eine spezifische Brotlosigkeit des literarischen Schreibens, die in den letzten Jahren durch die Krisen im Verlagswesen und im Printmedienbereich nicht kleiner geworden ist.

Die Ausstellung in Bern zeigt: Schriftstellerei ist ein Berufsstand, in dem seit hundert Jahren der bedeutendste Karriereschritt normalerweise darin bestand, es vom dilettierenden Feierabendpoeten zum Working Poor gebracht zu haben. In der Schweiz hat der Verband der Autorinnen und Autoren (AdS) denn auch nicht deshalb achthundert Mitglieder, weil hier achthundert literarische Profis kontinuierlich am Werk wären, sondern weil «Autor» keine geschützte Berufsbezeichnung ist. Und wenn in einer Vitrine Belege mit jährlichen sechsstelligen Einkünften zu sehen sind, die Friedrich Dürrenmatts Buchverkäufe in den siebziger Jahren dokumentieren, dann wird die Ausnahme gezeigt, die die Regel bestätigt: Denn dass Max Frisch und Dürrenmatt ausgezeichnete Autoren waren, ist ganz entschieden nur das eine. Wäre damals, als sie ihre Karrieren begannen, der eine Teil der deutschsprachigen Konkurrenz nicht sprachlos gewesen und der andere in den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs geblieben, hätte Frisch voraussichtlich in Zürich nicht nur das Letzibad, sondern noch viele andere Bauten errichtet, und der Phil-Einser Dürrenmatt hätte sich als Ernährer seiner Familie früher oder später am Kirchenfeldgymnasium in Bern als Deutschlehrer verdingt. Und beide hätten daneben möglicherweise in bewundernswürdiger Nachtarbeit literarisch getan, was ihnen möglich gewesen wäre. «Frisch» und «Dürrenmatt» wären sie dabei mit Bestimmtheit nicht geworden.

Laut einem Bericht zuhanden des Bundesamts für Kultur ist es so: 1999 gab es in der Schweiz 960 in den beiden Verbänden Gruppe Olten und Schweizerischer Schriftstellerverband organisierte und 410 unorganisierte «literarisch Schaffende». 60 Prozent von ihnen erzielten weniger als 20 Prozent ihres Einkommens aus dem Schreiben; weitere 20 Prozent weniger als die Hälfte; 10 Prozent erschrieben sich 50 bis 90 Prozent des Einkommens und 8 Prozent der Autoren und Autorinnen lebten ausschliesslich vom Schreiben, wobei in diesem Fall ein monatliches Einkommen von 2000 bis 3000 Franken die Regel war.

Literatur als uninformierter Wohlklang

Die «brotlos?»-Ausstellung regt mit ihrem kurzweiligen Rückblick auf hundert Jahre literarisches Schaffen in diesem Land zum Nachfragen an: Der Entscheid, literarisch arbeiten zu wollen, ist für die allermeisten offensichtlich immer wieder gleichzeitig der Entscheid gewesen zur ökonomischen und damit gesellschaftlichen Marginalisierung. Was bedeutet das für die Schreibenden – und was für ihre Arbeit?

Bei den Autoren und Autorinnen scheint sich in erster Linie eine Tugend der Selbstbescheidung herausgebildet zu haben, die an Selbstverleugnung grenzt. Eine Umfrage unter den Mitgliedern der Gruppe Olten hat 1994 ergeben: Nur 25 Prozent der Befragten wünschen, ihr Einkommen vollständig durch literarische Tätigkeit zu erzielen. 80 Prozent der Befragten schätzten damals ihre Situation als «genügend» bis «sehr gut» ein. Das freie Künstlertum kopple einen sowieso nur von «der so genannten Praxis» ab und sei deshalb dem Schreiben nicht förderlich.

Ein erstaunliches Ergebnis: dass Schreiben selbst eine Praxis sein könnte, scheint undenkbar. Man stelle sich vor, Schreiner, die als Schreiner ernst genommen werden wollen, gäben zu 80 Prozent an, tagsüber gerne in der Migros Regale aufzufüllen, weil sie sonst ja nichts als Holz sähen. Der Unterschied zwischen Schreinern und Schreibern in diesem Land ist, dass Erstere ihren Beruf ausüben und es den Letzteren zu genügen scheint, ihre Berufsbezeichnung als schicke Unmöglichkeit vor sich her zu tragen. Sie wollen allzu oft lieber nur an die schönen Texte denken, die sie noch schreiben werden, als der Welt einen Stoff abzutrotzen und ihn tatsächlich zu gestalten (was halt eben Arbeit wäre).

Wer in diesem Land nicht nur Schriftsteller oder Schriftstellerin genannt werden, sondern auch im Beruf arbeiten will, hat es ohne grössere Erbschaft oder verdienenden Lebenspartner (verdienende Lebenspartnerin) auf die Dauer schwer. Eines der erschütterndsten Exponate der Ausstellung ist ein «Angst-Bild» der Schriftstellerin Adelheid Duvanel, das den Titel «Finanzielle Not» trägt. Duvanel hat es Ende der achtziger Jahre gemalt und ihrer Schriftstellerkollegin Maja Beutler verkaufen können. 1996 hat sich  Duvanel umgebracht.

Professionell verstandene Schriftstellerei kann – nach der Erstlingsneugierde der Medien und den ab der Lebensmitte ausbleibenden Förderbeiträgen – unlebbar werden. Diese Existenzangst ist der Grund für das hierzulande in spezifischer Weise ambivalente Verhältnis zwischen der Schriftstellerei und ihrer professionellen Ausübung. Und diese Ambivalenz liegt dem zugrunde, was hier und heute im Durchschnitt als Literatur gilt: Stilübungen über das dräuende Irgendetwas, mit Wohlklang verkleisterte Vagheit, Subtilität des Ungefähren, Laubsägearbeiten aus Weltlosigkeit.

Ist es nicht so, dass viele literarische Texte im Durchschnitt zwar ansprechend geschrieben sind, aber uninformiert wirken wie ein LeserInnenbrief? Ist es nicht so, dass die Selbstbezogenheit, die aus den Texten spricht, auch auf den sozial marginalen Ort der Schreibenden verweist? Wie ist das Paradox aufzulösen, dass jene, die Geld hätten, fundiert zu recherchieren, dafür keine Zeit haben, weil sie in einem anderen Beruf tätig sind – und jene, die tatsächlich als SchriftstellerInnen arbeiten, um zu überleben, zu einem journalistisch-intensiven Output genötigt sind, der jede fundierte Recherche verunmöglicht? Hat die zunehmende Vorliebe für schmale Bücher und kurze Stücke nur mit den unabweisbaren Ansprüchen der Verlage zu tun oder auch mit den Arbeitsbedingungen, die ein hartnäckig in die Tiefe und in die Breite gehendes Schreiben nicht – eventuell sogar: immer weniger – erlauben?

Es wäre eine lohnende Aufgabe für das Ausstellungsteam des Literaturarchivs, nach den Arbeitsbedingungen die Literatur zu problematisieren, die diese hervorbringen.

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Im Innern des Teufelskreises

Die Ausstellung «brotlos? Vom Schreiben und vom Geld» ist eine Ausstellung des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA) in den Räumen der Landesbibliothek in Bern [seit 2006: «Schweizerische Nationalbibliothek», fl.]. Der Ausstellungsmacher Philipp Burkard hat vier Themenbereiche gestaltet: «Der Traum vom freien Schriftstellertum – konfrontiert mit der Realität», «Die Vielfalt der biografischen und beruflichen Lebensentwürfe», «Die Organisationen und die Literaturförderung» und schliesslich «(Selbst-) vermarktungsstrategien von AutorInnen der Gegenwart».

Aus dem reichen und von Jahr zu Jahr wachsenden Fundus des SLA präsentiert die Ausstellung Materialien von SchriftstellerInnen aller vier Landessprachen: von Hermann Hesse bis Alice Ceresa, von Annemarie Schwarzenbach bis Plinio Martini, von Corinna Bille bis Andri Peer: Bettelbriefe und akribische Haushaltungsbücher, Klagen, Verträge und Zusammenstellungen erbärmlich kleiner Zeitungshonorare. Ergänzt wird die Ausstellung mit sechs Videointerviews, in denen sechs Schreibende der mittleren und jungen Generation über ihre Arbeitssituation Auskunft geben: Eugène, Fabio Pusterla, die Rätoromanisch schreibende Eva Riedi, Raphael Urweider, Sabine Wen-Ching Wang und Matthias Zschokke.

Vertieft wird das Ausstellungsthema einerseits mit einem Rahmenprogamm, aus dem insbesondere die kulturpolitischen Diskussionen «Pagare i poeti?» (17. März) und «Geld für Geist? Literatur und Geld in der Schweiz» (27. April) hervorzuheben sind. Andererseits ist auch die neuste Ausgabe des «Quarto» – der Zeitschrift des SLA – dem Ausstellungsthema gewidmet. In seinem darin abgedruckten Beitrag bringt der Schriftsteller Matthias Zschokke den «Teufelskreis», den dieses Thema bildet, auf den Punkt: «Gibt man so einem Dichter Geld, wird er bequem und aller Voraussicht nach aufhören zu dichten. Gibt man ihm keines, wird er krepieren und also ebenfalls aufhören zu dichten. Ein herrliches Denk- und Lesevergnügen für Liebhaber der Aporie, zu denen Kunstfreunde und brotlose Künstler, die diesen Namen verdienen, mit Sicherheit zählen.»

Der Titel des Beitrags lautete in der WOZ verkürzt: «Schreiner und Schreiber».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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