Putsch im Bleistiftgebiet

Man kann es freundlich sagen: Nach der überfälligen Bearbeitung struktureller und personeller Altlasten steht das Robert Walser-Archiv heute kurz vor dem Neustart. Oder man sagt es unfreundlich: Statt die Stiftung zu sanieren, die das Archiv betreibt, wurde hinter den Kulissen in diesem Jahr ein Machtkampf um den Zugriff auf die Goldgrube des literarischen Walser-Nachlasses geführt. Die Eidgenössische Stiftungsaufsicht sieht derweil keinen Grund zur Beunruhigung. Alles in Ordnung also?

Der verpuffte Alarm

Man kann sich erinnern: Am 14. Oktober 2003 informierte das Walser-Archiv die Öffentlichkeit über seine alarmierende finanzielle Situation. Die eigenen Mittel seien auf 10 000 Franken geschrumpft und das jährliche Defizit betrage 80 000 Franken. «Wir sind», sagte der Walser-Archivar Bernhard Echte damals, «tatsächlich am Ende, wenn es uns nicht gelingt, öffentliche und private Fördermittel zu generieren». Eine von der Stadt Zürich gewährte Soforthilfe von 25 000 Franken half, die nächsten Monate zu überbrücken.

Die längerfristige Rettung sollte aber von einem Patronatskomitee kommen, dem unter anderem der ehemalige «Blick»-Chefredaktor und heutige Vizepräsident des Swiss-Verwaltungsrats, Walter Bosch, angehörte. Ziel dieses Komitees: Neben den schrumpfenden Einnahmen aus Urheberrechten (zuletzt knapp 80000 Franken) sollten jährlich zusätzlich 300000 Franken zusammenkommen – «längerfristig» gesichert, so der «Bund» damals, «durch die Kapitalisierung des Etats auf der Höhe von 6 Millionen Franken».

Im Oktober 2004 hat die Kampagne «Rettet das Robert Walser-Archiv» exakt 29345 Franken erbracht. Zudem seien, so schreibt die «Weltwoche», der Stiftung «bereits gegen 200 000 Franken an Fördermitteln zugesagt worden» (21.10.2004). Das Walser-Archiv hat demnach entweder damals seine Lage ungehörig dramatisiert, oder es ist seither finanziell weiterhin kaum gebremst auf sein Ende zugesteuert.

Ein Blick hinter die Kulissen

Im Oktober 2003 gab es im Bleistiftgebiet des Walser-Archivs folgende Akteure: Erstens den Archivar Bernhard Echte. Zweitens Norbert Loacker (Präsident), Ernst Hefti und Hugo Loetscher als altgediente Stiftungsräte der Carl Seelig-Stiftung, die das Archiv betrieb. Drittens die Robert Walser-Gesellschaft, präsidiert von Wolfram Groddeck, Professor für Editionswissenschaft, Textkritik und Rhetorik an der Universität Basel. Diese Gesellschaft war 1996 von der schon damals notleidenden Seelig-Stiftung zur Unterstützung des Archivs gegründet worden, hat aber ihren Zweck, so Loacker, nie erfüllt: «Die Walser-Gesellschaft schmarotzt bis zum heutigen Tag finanziell, logistisch und personell von der Stiftung.» Und viertens gibt es nun das Patronatskomitee mit Wirtschafts- und Finanzcracks um Walter Bosch, das tun sollte, was die Walser-Gesellschaft nie hatte tun wollen oder tun können, nämlich Geld organisieren.

Heute ist alles anders: Am 19. März 2004 verlangte Groddeck von Loacker und Hefti, als Präsident der Walser-Gesellschaft «ex-officio» Einsitz in den Stiftungsrat der Seelig-Stiftung zu erhalten. Erstens bedeute ein solcher Einsitz, so Groddecks Gesprächsprotokoll, «eine bessere Transparenz für die Restrukturierungsprozesse», worunter nicht zuletzt die Idee verstanden werden sollte, «die CS-Stiftung mit der RW-Gesellschaft zu fusionieren». Zweitens aber plane er, Groddeck, «eine aufwändige kritische Walser-Edition». Deshalb müsse «strikt vermieden werden, dass Archiv und Edition als konkurrierende Geldsucher erscheinen und sich schlimmstenfalls gegenseitig blockieren.» So wurde Groddeck Stiftungsrat. Für sein Pilotprojekt «Kritische Robert Walser-Ausgabe» hat der Nationalfonds übrigens unterdessen knapp 190000 Franken bewilligt.

Der neue Schwung

Die drei bisherigen Stiftungsräte wurden nun abrupt aus ihrer beschaulichen Welt gerissen. Dagegen, dass um des einheitlichen öffentlichen Auftritts Willen die Seelig-Stiftung in «Robert Walser-Stiftung» umgetauft wurde, hatten sie nichts. Aber dass für die Stiftungsratssitzung vom 17. Mai der Archivar ein Vorausprotokoll verschickte mit den zu fällenden Entscheiden, war doch ziemlich befremdlich. In ungetrübter Vertrauensseligkeit liessen die drei Bisherigen es an der Sitzung dann tatsächlich zu, dass der Stiftungsrat neben Groddeck um zwei weitere Mitglieder der Walser-Gesellschaft und um zwei Mitglieder des Patronatskomitees (darunter Bosch) aufgestockt wurde.

Die einzige Sitzung dieses nun achtköpfigen Gremiums fand am 23. Juni statt. Das Protokoll – verfasst von der langjährigen Sekretärin der Stiftung – blieb bis zum einfachsten Satz umstritten. Dieser lautete: «Der nächste Sitzungstermin muss zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt werden.» Falsch, befand Groddeck, unterdessen Vizepräsident der Stiftung, und verlangte am 24. Juli vom Präsidenten Loacker per eingeschriebenem Brief, «die bereits angekündigte Sitzung» auf 20. August einzuberufen, um «gemeinsame Entscheide für die Zukunft zu treffen». Mitunterzeichnet war der Brief von drei weiteren der neuen Stiftungsräte. Loacker schrieb am 3. August zurück, am 20. August seien die Stiftungsräte Hefti und Loetscher auslandabwesend. Um «gemeinsame Entscheide» zu treffen, müsse man deshalb wohl oder übel einen anderen Termin suchen. Am 6. August lud daraufhin Groddeck an Loacker vorbei zur Stiftungsratssitzung und betonte, die Einladung sei «rechtmässig», da sie «auf Wunsch der Mehrheit der Stiftungsräte» erfolge. Mit unbestreitbarer demokratischer Mehrheit putschten so die fünf neuen Stiftungsräte gegen die drei alten.

Die umstrittene Kündigung

Unterdessen eskalierte ein anderer Streit, der seit langem schwelte: jener zwischen dem Archivar und der Seelig-Stiftung, die diesen angestellt hatte. Am 10. Juli schrieb Echte, der sich vermutlich zu diesem Zeitpunkt aufgrund von Zusagen der neuen Stiftungsräte als designierter Geschäftsführer des Robert-Walser-Archivs fühlen durfte, seinem Arbeitergeber, dass er sich im Hinblick auf den fünfzigsten Todestag Walsers im Jahr 2006 publizistischen Projekten widmen wolle und deshalb «auf jeden Fall für die archivalischen Tätigkeiten ab September nicht mehr zur Verfügung» stehe. Da Echte laut Arbeitsvertrag vom 27. Oktober 1995 «als Archivar des Robert Walser-Archivs angestellt» worden war, verstand der Stiftungsrat Echtes Ankündigung als Kündigung, die er per 1. August bedauernd bestätigte, obwohl man immer wieder Eigenmächtigkeiten des Archivars registriert hatte: Insbesondere habe Echte Archivalien ohne Kenntnis und Erlaubnis der Stiftung, ohne Vertrag mit ihr und ohne Leihgebühren beziehungsweise Urheberentgelt für Ausstellungen und für Publikationen in seinem eigenen Verlag (Nimbus, Wädenswil) verwendet. Zudem habe er seine Arbeitszeit auch für extern finanzierte ausstellungsmacherische Tätigkeiten zweckentfremdet.

Die Stichhaltigkeit der Vorwürfe vorausgesetzt, ist es unverständlich, dass die Stiftungsräte im Interesse des Walser-Archivs nicht längst eingeschritten waren. Sie zogen es vor, erst als sie nichts mehr zu sagen hatten, Klartext zu reden. Mit Brief vom 16. September erklärten Hefti, Loacker und Loetscher gemeinsam ihren Rücktritt: Für die Richtung, die «das Robert Walser-Archiv nun einschlägt, möchten wir nicht weiter mitverantwortlich sein». Und was Bernhard Echte betraf, fassten sie ihre Bedenken so zusammen: «Das Robert Walser-Archiv ist kein Echte-Archiv.»

Bereits zuvor, am 20. August, hatten allerdings die putschenden Stiftungsräte Nägel mit Köpfen gemacht, was problemlos ging, weil Hefti und Loetscher tatsächlich im Ausland waren und Loacker der Stiftungsratssitzung verständlicherweise auch fern blieb. Zuerst formulierten die fünf Neuen sämtliche strittigen Punkte des Protokolls vom 23. Juni nach ihren Gusto um. Danach wählte man Bosch zum neuen Präsidenten, Loacker sollte, sekundiert von Groddeck, Vize bleiben dürfen. Die Kündigungsbestätigung der alten Stiftungsräte wurde als «Kündigung» angesprochen und für «nichtig» erklärt: «Statt dessen wird Herr Echte als Geschäftsführer gewählt.» Das Protokoll kommentiert: «Mit diesen Wahlen wird zum Ausdruck gebracht, dass neue Köpfe für den Aufbruch in eine gemeinsame neue Zukunft stehen.»

Der Neustart

«Es sind die drei alten Stiftungsräte», sagt Bernhard Echte heute, «die das Archiv in die finanzielle Misere geführt haben. Es war überfällig, dass sie daraus die Konsequenz gezogen haben und zurückgetreten sind.» Im übrigen sei es den neuen Kräften im Patronat und im Stiftungsrat zu danken, dass die Trendwende bereits habe realisiert werden können. Nachdem man Ende letzten Jahres dicht vor dem Aus gestanden habe, könne man zwölf Monate später mit einer sechsstelligen, allerdings projektgebundenen Liquiditätsreserve ins neue Jahr gehen. Und mit den neuen Leuten, dem klaren Reglement und der transparenten Struktur könne man nun ein seriöses «Fundraising» betreiben.

Auch für Walter Bosch, den neuen Stiftungsratspräsidenten, geht es jetzt um «einen Neustart», um «eine neue Identity» der Archivs. 2005 müsse das Fundraising erfolgreich einsetzen, sonst schramme man in der zweiten Jahreshälfte «hart am Abgrund vorbei». Bosch ist zuversichtlich – auch was Echte betrifft: «Er ist von seinem Background, seiner Haltung, seiner Erfahrung und seiner Kompetenz her der ideale Geschäftsführer.» Zuständig sei er, so referiert Bosch das Pflichtenheft, für den kontinuierlichen Betrieb und den Ausbau des Archivs, für die wissenschaftliche und konservatorische Betreuung der Archivalien, die Wahrnehmung der Urheberrechte an Walsers Werk und für die Budgeterstellung, -einhaltung und -kontrolle.

Literaturarchiv statt Luftschloss

Zwar sind 14 Monate nach der Pressekonferenz im Oktober 2003 die 6 Millionen Franken, die man für den seriösen Weiterbetrieb des Archivs längerfristig als nötig erachtet, weiterhin nichts als ein Wunschtraum. Dafür haben nun nicht mehr drei ehrenwerte Bildungsbürger das Sagen, sondern zwei Profis mit klaren Interessen: Wolfram Groddeck will den Zugriff, um sich mit einer monumentalen Walser-Ausgabe ein philologisches Denkmal setzen; Bernhard Echte braucht ihn einerseits für seine weiteren herausgeberischen Ambitionen (für 2006 Walsers Briefe für Suhrkamp und das Remake von Peter Hamms Walser-Biografie für Insel), andererseits wohl auch ein bisschen als Altersvorsorge. Immerhin heisst es im Zweckartikel der Robert Walser-Stiftung: «Insbesondere sind Künstler und Wissenschafter - ausnahmsweise auch ihre Hinterbliebenen - im Falle von Bedürftigkeit zu unterstützen.»

Aus der Sicht der zurückgetretenen Verwaltungsräte gibt es heute nur noch eine «verbleibende seriöse Option»: Das Walser-Archiv nach Bern ins Schweizerische Literaturarchiv (SLA) zu überführen. Diese Option würde bedeuten: Das Problem der unverändert prekären finanziellen Situation des Walser-Archivs wird abgekoppelt von den Interessen von Groddeck und Echte. Das SLA übernimmt das Walser-Archiv mit einem langfristigen Depotvertrag und garantiert die Lagerung und die Benützung für alle Forschenden gleichermassen. Die Robert Walser-Stiftung finanziert einen Kurator, der für die fachliche Beratung, für die Forschung und für Editionsprojekte zuständig ist und dafür einen Arbeitsraum im SLA erhält – ein Modell, das heute schon mit dem «Centre d’études Blaise Cendrars» funktioniert. Das wäre die vernünftigste Lösung. Wenn es denn um Vernunft geht.

Die zahlreichen kleineren Kürzungen, die für den Abdruck in der WoZ nötig gewesen sind, sind hier rückgängig gemacht worden. – Ende April 2009 ist  Robert Walsers Nachlass tatsächlich ins Schweizerische Literaturarchiv überführt worden – die Nationalbibliothek hat dannzumal mit folgendem Communiqué informiert. Im September 2009 ist dann in der Berner Altstadt das «Robert Walser-Zentrum» als neuer Sitz der Robert Walser-Stiftung eröffnet worden. Ich habe  es aus diesem Anlass unternommen, Robert Walser auf dem Friedhof in Herisau mit einem Brief darüber zu informieren, was mit seinem Werk angestellt wird und warum er sich nicht ganz aus der Verantwortung stehlen könne.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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