Polykarbonat blüht nachts

Am 11. März 1942 hat der Philosoph Günther Anders notiert, er sei der «Prometheischen Scham» auf der Spur. Das sei die Scham vor der «hohen Qualität der selbstgemachten Dinge»; die Scham, «geworden, statt gemacht zu sein». Deshalb sei, so Anders, eine Folge des technologischen Fortschritts die «Antiquiertheit des Menschen». Diese ist zwar nicht das Motto, aber ein Thema auf der Arteplage in Neuchâtel, einem der Ausstellungsorte der Landesausstellung Expo.02.

Die in den See hinaus gebaute Plattform ist von einem Schilffeld umgeben, das ein «Schilffeld» ist. Die überdimensionierten «Halme» sind aus hellgrünem Polykarbonat und tragen an der Spitze Lämpchen, die nachts leuchten. Zu dreien stehen sie in exakt ausgerichteten Reihen auf beweglichen Sockeln, die vom Wasser geschaukelt werden.

Natürlich muss der Schilf hier «Schilf» sein, denn hier geht es um «Natur und Künstlichkeit». Die Frage lautet: «Mensch oder Maschine? Bio oder Hightech?»; und die Antwort, die der «MediaGuide» der Expo.02 den Schurnis freundlicherweise vordenkt, heisst: «Eindeutige Grenzen gibt es schon lange nicht mehr.»

Für den Healthstore der Novartis-Zukunftsstadt Biopolis mag das zutreffen: Hier stehen für die ungenormte Maschine Mensch vom Putzroboter für das Körperinnere über künstliches Gewebe bis zu Wellness-Dragées «massgeschneiderte, individuelle Lösungen für jedes Problem» bereit. Und gleich vis-à-vis wartet «Ada» (ETH und Universität Zürich), der «intelligente Raum» mit «eigener Persönlichkeit», von dem seine KonstrukteurInnen wissen: «Ada kann uns wahrnehmen, wir können mit ihr kommunizieren, und sie reagiert auf uns.»

Zwischen Ada und Biopolis steht man ein bisschen hilflos im ideologischen Schilf («Schilf»?): auf der einen Seite eine vermenschlichte Maschine, die – wie die Gläubigen versichern – «Sinnesorgane» hat, «sehen», «hören» und «Berührungen spüren» kann; auf der anderen Seite der Mensch als biotechnologisch aufgemotztes Supertier. Hier die Maschine als fast schon brauchbarer Untermensch, dort die Ankündigung des Übermenschen. Hier der Traum von einem humanisierten Rassismus, der keinem Menschen wehtut, dort die Vision einer philanthropischen Eugenik ohne Zwang (für die, die Geld haben).

Während Schulkinder übermütig auf Adas bunt aufleuchtender Bodenplatten-«Haut» herumhüpfen und ihre Gschpändli in der Biopolis-Arena am grossen runden Tisch vor ebenso bunten Bildschirmen das Compi-Spiel «Balance» spielen, mit dem man «das Wunder des Lebens» enthüllen kann, wird einem langsam eng: Ada und Biopolis – ist das nicht das technologisch in die Gegenwart fortgeschriebene Remake von Negerdörfli und Schweizerdörfli an der Landesausstellung 1896 in Genf? Damals hiess es in einem Erinnerungsbuch: «Das Leben und Treiben der Schwarzen lässt nichts an Naturwahrheiten zu wünschen übrig.» Adas Töne, Lichter und Projektionen auch nicht.

Wenn man, von der Erkenntnis niedergeschmettert, nichts als ein «skandalöses Nicht-Gerät» (Anders) zu sein, in der nächsten Menschenschlange vor dem nächsten Ausstellungseingang steht, meldet sich allmählich das kollabierte Selbstbewusstsein wieder: Wer hier geduldig wartet, bleibt zumindest als administrierter Massenmensch Experte.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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