[100]
hinterhof
stell dir einen hinterhof vor:
hinten begrenzt
von der fensterlosen rückfront
eines hochhauses –
auf beiden seiten: mauern
als begrenzung zu anderen hinterhöfen –
vorne: dieses fremde haus
in dem ich seit geraumer zeit
als untermieter wohne:
zimmer im zweiten stock
blick auf den hinterhof
stell dir diesen hinterhof vor:
vor der grauen grauen rückfront
drei kleine kahle birken
dann auch der grosse kirschbaum
schwarz und sehr allein
wie du dir denken kannst –
dann musst du dir auch die erhöhte tür
zu diesem hinterhof vorstellen
und die sechs stufen
und drei tauben und acht spatzen
und winter und einige schneereste und
irgendwo stadtlärm und
grau grau grau
ist der morgen
und mittwoch
und nun:
in der mitte des hinterhofs
unter dem kirschbaum
– mein gott –
der rote stuhl
mitten im winter
und schon gegen mittag
dies gebe ich
zu bedenken
(1.2.1978; 24.7.1978)
[101]
lange erlen
herbst hat lichte fäden
zwischen erlen und buchen gehängt
vor dem schwebenden vormittag
schleppt geräuschlos am stock
ein rentner unter mächtigem ahorn
sich langsam vorbei
eine spinne
stelzt über behauchten kies
wie eine verspätete hoffnung
neigt sich der weg ins gehölz
weit drüben
steht alt eine frau
ihr pekinese kläfft
enten über
das ziehende wasser
weit weg
o weit weg
schreien rangierende züge
aus der stolzen stadt
vom nahenden frost
(5.9.1978)
[102]
mittagszeit / februarregen
mittagszeit / februarregen
weit drüben
im silbergrauglanz
des asphalts das trottoir
gut möglich: ein paar passanten
kind im regenschutz: gelb
ein schirm: schwarz und
natürlich auch wind
wenn du willst
vorbeihuschend kaum wahrnehmbar
farbige schatten vorm starren blick
geplauder spritzender autoreifen
von aquaplaning und blutigen unebenheiten
mittagszeit / februarregen
weithin
der silbergrauglanz
der fremden fremden strasse
gut möglich: ein unfall
kind im regenschutz: angefahren
auf dieser fremden fremden strasse
die zu verteidigen ich gezwungen werden kann
mit der resignation einer uniform
mit der hoffnungslosigkeit einer handgranate
mit der verzweiflung eines gewehrs
als aquaplaning für gepanzerte feindbilder
als blutige unebenheit
mittagszeit / februarregen
drei häuser weiter
im silbergrauglanz
ein restaurant:
lammbraten
ganz billig
wenn du willst
(2.2.1978)
[103]
abendspaziergang
ich gehe langsam weiter
grellhelle reklamewand
drüben häuserblocks
edelgefängnisse für freie fernsehkonzessionäre
polizeistreife fährt vorbei
blaulicht ausgeschaltet
zeit für die spätausgabe der tagesschau
ich stehe ausserhalb des spielfelds
der politischen dribbelkünstler
erbrochenes neben einem nightclubeingang
mein applaus gilt den wetterprognosen
«hast du was gewollt liebling?»
aus blonden haaren parfumwolke (augen?)
«danke ich befriedige mich selber»
entlang dem thuyahag: hundescheisse
rentnerfreude:
auf den hund gekommen
aus einer offenen türe flipperkastengebimmel
freispiele knallen:
es ist eine lust zu leben
so viel überflüssiger samen
lichtreklamen amen amen
so viel unverantwortete zeugung
so viel zukunftsloses leben
taxis
zwei betrunkene prügeln sich
blut im mundwinkel des einen
der andere schlägt
zwei frauen kichern
ja auch ich habe nicht recht
wie sollte ich?
bloss: deshalb schweigen?
polizeistreife:
blaulicht ausgeschaltet
[104]
durch schneidenden neonschrei
werden zwei sich einig
sie winkt ein taxi heran
ich gehe langsam weiter
(9.5.1978; 11.7.1978)
[105]
lichtblick
ampeln
wehen menschentrauben
auf den zebrasreifen
ein tram schreit
in der kurve
lichtwürfe
in kinoausgängen
tasten blinde seher
und strassenränder
sammeln barmherzig erschöpfte
vor die offenbarung des lichtsignals
(6.9.1978)
[106/107: Illustration; 108]
wachsender wohlstand
auf der brücke stehn welche
an die nasskalte brüstung gelehnt
abends im diesigen regen
und starren ins lehmige lähmende Wasser
sehn treibende kopflose puppen
schwankend über der pissoirschüssel
in der dreifingrigen alten hand
hält einer sein schlaffes tropfendes glied
schlägt mit dem kopf gegen die wand:
ich will eine frau zum vögeln
allein im nächtlichen regen
wartet eine frau auf dem trottoir
rauchend unter dem regenschirm
ihr offener regenmantel möchte verführen
ein streifenwagen fährt langsam vorbei
in den strassen bittet ein schatten
mit fiebrigen augen in fliegender angst
um geld für sein nachtessen
nach dem unter triefender jacke
sein unterarm schreit
eine weinende frau huscht hastig vorüber
eine dunkle gasse wischt sie weg
in den schwarzen löchern aufgerissener strassen
rauschen leise regenglänzende röhren
plaudern von wachsendem wohlstand
(22.8.1978)
[109]
unterer rheinweg
drüben auf der brücke
brennt röhrend
ein tram vorbei
die dunkelheit
sitzt rittlings
auf dem treibenden wasser
kirchenglocken
ordnen geschäftig
die zeit
nichts ist zu beweisen
in menschenleeren nächten:
fliesst
das schwarze wasser
jetzt vor mir
blutigrot?
treibt
jetzt weit draussen
aufgedunsen einer vorbei
der das grosse glück
auch nicht mehr
aushielt?
auf der brücke
dröhnt brennend
ein tram
(2.9.1978)
[110]
nächtliche bahnfahrt
das schläfert ein –
rattert und klopft
spiegelt das abteil hinaus in die nacht
ich sitze
an mich gelehnt
durchs fenster
ins leblose abteil
dösend
da seh ich starrend
schattiges fliehn
durch mein spiegelbild:
das ist die angst
(5.7.1978; 11.7.1978; 6.9.1978)
[111]
ruhe vor / ruhe nach
am schreibtisch
nachmittags mitten im sommer
es regt sich wer hinter mir auf dem bett?
was bedeutet das schon
heute ist die welt gestorben
der verdorrte mimosenzweig
in einer leeren weinflasche
was bedeutet er schon
die sonne hängt klebrig im fensterkreuz
das adressbuch irgendwo
zwischen gestrigen zeitungen leer
was bedeutet es schon
noch regt sich nichts regt sich mehr
aus meinen augen wachsen stalaktiten
am siebenten tage aber
was
(24.7.1978)