VII gespräch über masken

 

[77]

totalausverkauf

 

der glaube

liegt auf in unseren 

supermärkten

zu schleuderpeisen

(theologisch-dynamisch

nahrhaft und gesund

schon im säuglingsalter)

 

weisheit

jetzt in tablettenform

dreimal täglich ein dragée

kinder das mehrfache

(garantiert unschädlich)

 

die dornenkrone der wahrheit

geht in massenproduktion

(kunststoffdornen

keine verletzungsgefahr

als kinderspielzeug geeignet)

 

über unsere endlosen fliessbänder

läuft zukunft in tetrapackungen

LEGEN AUCH SIE IHREM KIND ZUKUNFT IN DIE WIEGE!

(hygienisch

vakuumverpackt

unbeschränkt haltbar)

 

und

der schlager des hauses:

hoffnung wird gratis abgegeben

als prinzip und zum lutschen

erkundigen sie sich

an unseren kassen

(achtung:

widerstand

 

[78]

das klebrige abfallprodukt

wächst empor

aus den kanalisationen

die kläranlagen

der ideologischen lüge

sind überfordert

widerstand von kindern fernhalten:

zunehmende infektionsgefahr

giftklasse: steigend)

(20.8.1978; 12.9.1978)

 

[79]

kinderreim

den eltern vor dem zubettgehen vorzusprechen

 

eure stille güt und demut hat

ihr freude gebracht

und nicht vergebens hofft ihr auf

almosen der macht

 

nehmt still eur teil und schweigegeld

vermehret es sacht

was alle tun ist gut getan

gut nacht

(11.5.1978; 27.6.1978)

 

[80]

flüchtige bekanntschaft

 

alles klar sagst du

du sagst:

es gibt nichts besseres als gras und bier

du sagst:

morgen geh ich über die grenze

du sagst:

ich werd den laden schon schmeissen

 

alles klar sagst du

du sagst:

arbeit ist der letzte fick

du sagst:

die verdammten spiesser mit dem mercedes

du sagst:

wenn der zöllner krumm kommt mach ich ne fliege

 

alles klar sagst du

du sagst:

ich knack ab und zu automaten

du sagst:

morgen geh ich rüber. kannst du mir geld pumpen?

du sagst:

na ja natürlich bin ich ein wenig verladen heut abend

 

alles klar sagst du

du sagst:

ich bin stier. wo ist denn hier der kaffee?

du sagst: 

so um dreissig mach ich n laden auf. nur für freaks. grosse klasse

du sagst:

drüben bin ich aus ner psychiatrischen abgehauen

 

alles klar sagst du

du sagst:

eure wohngemeinschaft ist totale spitze. wo ist das brot hier?

du sagst:

hoffentlich lassen die mich rüber. ich will nicht gewalttätig werden

du sagst:

zehn mark. dann mach ich stop bis karlsruhe

 

[81]

alles klar sagst du

du sagst:

voll speed. ich schmeiss den laden schon

du sagst:

ich hab schwarzen. raucht wer mit?

du sagst:

morgen geh ich rüber. keine frage

 

alles klar sagst du

ja

(31.5.1978)

 

[82]

der traum des nomaden

 

schau diese bröckelnde erde:

das ist keine bröckelnde erde

das ist besitz und gewinn

 

schau dieses wüste land:

hier wachsen keine kartoffeln

hier wächst der quadratmeterpreis

und die besitzer ernten

im herbst die wuchernden zinsen

 

ich kann mich nicht beklagen:

auch ich kann mir meinen boden 

erdienern erducken und erschweigen

wenn ich mir mühe gebe

ab heute und für alle zeit

werde ich in dreissig jahren

so gott will und der quadratmeterpreis

meine geschundenen glieder 

die braungeleckte zunge

das sterbende hirn

lagern können auf eigenem boden:

dem rastplatz vor dem fremden altersheim

ich werde von staates gnaden belohnt werden

für meine leistung als bauarbeiter

an der strasse der gemeinsamen richtung

und dafür

nie zur fehlgeleiteten konkurrenz

übergelaufen zu sein

 

geh ich winters über fremdes land

so klagt der wind in den drähten:

keine insel ist mehr zu entdecken

und in den mächtigen tannen rauscht es:

die welt ist aufgeteilt und verschachert

du bist zu spät gekommen

verstecke deinen traum und deine hoffnung

lass dich nirgends nieder

sei unterwegs unterwegs

du freiwild der grossen freiheit

(18.9.1978)

 

[83]

die freundin

 

entstellt 

wie eine pantomime

mit aufgeschlitztem rock

oberschenkelprostitution

am arm des leutnants

 

der wippende arsch

engumspannt vom handschuh 

des pickeligen karrieretraums

 

und ihre haare und ihre augen 

und der mund und überhaupt:

der held blickt mutig

unter dem schirmenden schutz

seines vaterländischen huts

 

die absätze höher noch:

von wade bis genick

die verspannte hoffnung

das grosse los

auszuführen –

 

ach scheisse

so berechenbare klischees

darf es gar nicht geben

 

«frauen: niemand kann euch zwingen

als grätschbeiniges requisit

in den kulissen der männermärchenschlösser

zu verstauben»

 

wem sage ich das?

und wieso ich?

ach scheisse

(27.9.1978)

 

[84]

des «blick»-«täters» «welt»-«bild»

 

komm lieber mai und mache

die boulevardblätter rot

von hunderttausend leichen + geschändeten

                                    gemordeten gemetzelten

                                    verfaulten + verendeten

                                    gehackten + geschnetzelten

und lass die opfer bluten

eh sie der tod erlöst

die hunderttausend entjungferten zerhackten

                                    unaufgeklärt verschwundenen

                                    die toten + die nackten

                                    gevierteilt aufgefundenen

:

denn leichen klagen nicht

auf üble nachrede

 

komm lieber mai und sende

der katastrofen viel

      hunderttausend fluten feuersbrünste

                                    beben + vulkane

                                    atomare dünste

                                    stürme hurrikane

komm lieber mai und lasse

uns unsern untergang

mit hundertausend pauken + trompeten

                                    politikern eskorten

                                    bomben + raketen

                                    + hunderttausend morden

:

aus sicherer entfernung

aber live verfolgen

(2.3.1978)

 

[85]

vermutung

 

laue mainacht morgens vor halb drei

du brauchst das ganze trottoir

schwer betrunken lallend schon von fern

 

«verhaschte type» rülpst du auf mich zu

und stieren blicks befiehlst du schon

dem angetrauten eheweib sich auszuziehn

 

«verhaschte type» torklest du

sonst vorarbeiter unteroffizier und kampferprobt

im biergefecht an mir vorbei

 

sie wird sich ausziehn zu vermeiden

dein gebrüll den schlaf der kinder nicht zu stören

und während ihre nacktheit deinen atem fürchtet

 

schnacht  deine schlaffheit auf: stichst

du im traum «verhaschte typen» ab

ihr blut entschädigt dich für vieles

 

freilich ich tu dir unrecht

(10.5.1978)

 

[86]

sozialstaat

 

schon gegen mitternacht 

hör ich husten rülpsen

seh ich dich kotzen alter mann

drüben im gleissenden neonwurf

gebückt über eine rabatte

voller vergissmeinnicht

 

ersäufst du offne fragen alter mann?

die ahv ist doch auch dein werk?

diese schweiz ist doch auch deine überzeugung?

die blumen ertrinken in deinem bier

die städtgärtner werden fluchen

unser staat vergisst dich nicht

 

laut schimpfst du gegen mich herüber

deine stummheit rührt mich – aber:

soll man kinder zeugen

um dereinst sündenböcke zu haben

für soviel selbstbetrug?

vergiss mich

(27.7.1978)

 

[87]

vergessene altware

 

die alte frau

schaut am stickigen stinkenden strassenrand

auf eingebundenen aufgeblasenen beinen:

da gehen leute vorbei

fahren autos vorbei

grüne trams vorbei

velos vorbei

vorbei

 

abends sitzt die alte frau

auf dem grossen grünen plüschsofa

mit schiefem schmerzendem rücken

und im fernseher gehen geräusche vorbei

fahren flimmernde bilder vorbei

grüne musiken vorbei

schatten vorbei

vorbei

 

im grünen grossen plüschsofa

fallen zu die zerknitterten lider

macht ein herz den letzten leisen sprung

geht im hüpfenden herzen die mutter vorbei

fährt der vater vorbei

grüne angst vorbei

freude vorbei

vorbei

 

in hundert jahren finden fremde

die alte frau in der stinkenden

stickigen stube schon grün

stellen den greinenden grünen fernseher ab

reissen die fenster auf

machen ein inserat

in die grüne zeitung: ab sofort

an solventen mieter

(21.9.1978)

v11.5