2001


[108: leer; 109: Titel; 110]

abendverkauf

 

die altstadt animiert mit den fassaden

kokett verleibt der alte herrschaftsstein

sich stossverkehr und kaufkraftfliessen ein

und trägt die nacht über den grellen gassen

in nischen husten rhythmisch die nomaden

zur klampfe für das sterbegeld

ihr lied vom liebesleid dem strom entlang:

so schlägt die angst vorm untergang

den takt anthropomorphen durchlaufmassen

 

die kids stehn in den warenhauseingängen

sie riechen frisch und fühlen sich begehrt

sind gut erzogen und noch kaum verladen

und werden für das leben aufgeklärt:

verspritzen hier nicht hinter stahlgestängen

 

erregende genussejakulate?

der warenstrom schleift junge seelen rund

und macht bedürftigkeit zum vaginalen schlund

für tausend eingeführte tauschwertdrogen:

was hungrig macht verkauft sich als oblate

zwar geht entlang der ränder stumm

in schwundform leben um: doch bald vorbei

hier schmiert die kauflust störungsfrei

das räderwerk: der mond wird aufgezogen

(1993)

 

[111]

der feminist

 

endlich ist der blaustrumpf-mief

überwunden und gemeistert:

alle denken positiv

und von der neuen zeit begeistert.

 

tot ist der geschlechterkrieg.

wir vertragen uns jetzt wieder

und wir feiern unsern sieg:

alle menschen wurden brüder.

 

jetzt geht alles wie im spiel

weil wir alle darauf brennen

uns zu leben für ein ziel

und zu leisten was wir können.

 

leistung ist geschlechtsneutral

objektiv wie zeugnisnoten

deshalb trifft der chef die wahl

nicht der zwang zu frauenquoten.

 

chancengleich sind wir genau

alle haben wir ja seelen

und gemüt. so kann die frau

ihren aufstieg nicht verfehlen

 

bringt sie konstruktiv sich ein.

alle solln ihr bestes zeigen

können: differenz darf sein

wenn die marktanteile steigen.

 

[112]

allen wird respekt gezollt,

auch den ausrangierten damen.

nur der rest ist gottgewollt.

lob und preis dir herrgott amen.

(2003)

 

[113]

der wahlsieg

 

politik schmückt diese tage

demokratisch wird das glück verteilt

stummregierte zum programm verfeilt

zum kolorit der allgemeinen lage

und zum plakatdiktat gestylt

 

im blaulicht eines pissoirs drücken

ertrinken an den klippen einer bar

am küchentisch versteinern vor der mahr:

zuerst muss dieses wochenende glücken

bevor es nicht das letzte war

 

auf sendung wissen koryphäen

was für ihr publikum das beste sei

die wahlgewinner machen ihr geschrei

und ausgezählte resultate wehen

mit dem frisch gefallnen laub vorbei

(1991/2004)

 

[114]

folienflash

 

tag nach tag das schlachtenschlagen

nachtlang tagkrank amen sagen

mamas jachten

papas schlachten

allen tand mit anstand tragen

            zugekifft

 

auch an flaggenkalten tagen

aus der angst ein strahlen schlagen

aus mas lachen

lachen drachen

die aus faltenspalten ragen:

            marterschrift

 

tag nach tag den abgang wagen

narbenwahres wahnbehagen

statt pas schatten

zu bestatten

drachenjagen drachenjagen

            welt ist gift

(1993)

 

[115]

alte weltordnung

Für Emily Kempin-Spyri (1853-1901), der ersten Juristin der Schweiz

 

Wie sonst der unordnung wehren?

leiber vom arm und vom hals

köpfe von frauen mit schals

männer von ihren gewehren

 

klinik friedmatt neunzehnhundert:

verwahrt führt die fleissige frau

die schere durchs zeitungspapier

zerrissen das band der geschlechter

 

füllt schachteln mit bruch und fragment:

köpfe von bäuchen getrennt

nur töten vereinigt gerechter

 

die welt ist ein männerrevier

und nacht vor vergittertem bau

die lächelnde leidet verwundert

(1991)

 

[116]

tagtürme nachttürme

 

als feuerball vermählt an diesem tag

erhabenes das wachstum mit dem terror

verschont auch jetzt die stunden ragen kahl

ins stahlblau unveränderliche auf

zerborsten ist der weltmarkt-doppeldom

und nichts sei mehr wie vorher drohen

die zeitungstitel schon im krieg die alten

gehen in die stadt nach mehl und öl

instinkt der frühen jahre fromme beten

die schafe heulen mutig mit dem wolf

der gut und böse trennt die opfer sind

zu staub zermalmtes schmieröl des getriebes

der bundesrat verordnet drei minuten

schweigen der wolf wird nur die feinde fressen

die nächsten titel meinen schon den sieg

 

und nachts eine hektische hausstadtglocke

durchströmt von flüchtigen schatten zwischen

strassenversperrenden bildschirmtürmen

überall dieses plakat aus zweimal

sieben fotos: tote rümpfe in weissen

dschellabas mit schwarzen einschusslöchern

eines hier mehrere dort: wer rächt

die rache des mächtigsten? hinter

den türmen ein dämmriger schulraum

die bänke verwaist abgewendet sitzt

an der fensterfront der lehrer und blickt

abgestorben hinaus in den regen der nacht

 

[117]

plötzlich erkenne auch ich hinterm glas

den regenbraun schäumenden strom: wie

komme ich so je wieder nach haus?

(2001/2003)

v11.5