1991

 

 

[17: Titel; 18]

kapitänsschiffstraum

für m.f., 1911-1991

 

I

der letzte schlaf des alten manns gebiert

den nirgends aufgehobnen schönen traum

des lichteren geschlechts noch einmal sprüht

das aufgeklärte wort: es scheidet wahn

vom licht und modelliert als helle spur

die menschliche kontur

 

II

                               ein bild steigt auf

aus nacht und agonie: der kluge plan

des kapitänsschiffs das den sturm der zeit

befährt das unsinkbar nach menschlichem

ermessen alle passagiere hält

und schützt und hegt das stets ins offne trägt

das immer neue wege wagt jedoch

kein ziel am ende der geschichte will

das seine ruder richtet nach dem tag

das zwecken dient jedoch dem endzweck nie

der steuerraum verriegelt und verpönt

als heidenhaus des alten kompasswahns

in dem dem königsweg gehuldigt wurde

der stets auch willkür falscher führer war:

«Diss ist die Zeit der Könige nicht mehr»

die throne bleiben leer

 

[19]

III

                               in diesem traum

und schnörkellos bezwungen durch vernunft

die stark genug die eignen grenzen kennt

vollendet sich der plan: das schiff fährt aus

mit ruder segel mast und einem deck

auf dem der herkunft ungeachtet alle

das wort zum wohl der weitern reise führn

gehört wird hier das stärkre argument

und mit dem mut zu reden und zu hörn

wächst lust und sorge für das allgemeine

und eigennutz zerstiebt wie gischt im wind

und man durchschaut die untertanenangst

die statt des wortes stets in demut still

den könig will

 

IV

                   den konstrukteur jedoch

verletzt die dummheit die zum götzen macht

was geist war in der zeit und stirbt mit ihr

ihn ehrt sein frei erdachtes und ihn freut

das frei erdachte das ihn widerlegt

ihn aufhebt übersteigt und weiterführt:

sonst nichts «So lehnt man Kronen ab,

Ihr Bürger (…) Euch ist nicht zu helfen, wenn

ihr selber euch nicht helft» der weltentwurf

der so das menschgemässe leben fordert

zerteilt die träge flut verbrackter zeit

bricht neue hoffnung in verschlammten grund

und zieht die linien frisch von horizont

zu horizont

 

[20]

V

                 so träumt der mann und stirbt:

sein plan war gut: in neuen zeiten und braucht

es neue pläne er hat seine pflicht

getan und fliegt: ein rasch verwehter aschenwurf

verwirbelnd ins gesträuch der kapitän

ist tot die brücke leer das steuer kreist

«jetzt müend d’lüüt sälber für sich luege»

(1991)

 

 

[21]

kuwait befreit

 

I

alle bildschirme sind grün

diese fahlheit meint paradies: kein licht

kein schatten zu sehn ist nichts

zu wissen bloss: sie fliegen

 

das blut fliesst nicht hier

die bombengeschwader im östlichen himmel

suchen nicht uns: die feindfolklore

im vorhof der winkelmacht: kein

fauler friede mit niemandem!

hier respektiert man das pathos

unsrer engagiertheitsrituale

makellos sind die parolen

die unsre taten sind: was tun was sagen wir

wenn wir erst wissen werden

wovon wir heute reden?

 

II

auf dem atem liegt dunkel ein gefangener himmel

anderswo brennen jetzt zerbombte panzer hier

treibt das feuer die motoren des allgemeinwohls

aufbruchabbauwiederaufbauwiederabbruch

irrlichtender schmerz: ratlose wut und

von der stirn zur schulter zum kreuz vergessene

angst: verbraucht ist mein mass an empörung

 

 

[22]

 

leuchtend im fenster ihr wachsender himmel

unbeirrbar pfeilen die silbernen nadeln

führen faden um faden ins netz

der endgültigen spinne von sonnenaufgang

zu sonnenaufgang

(1989/1991)

 

 

[23]

ancien régime

 

das jahr säuft ab im öl

die brühe brennt und flappt um die kadaver

im äther kriegsgegröl

in schillernden fächern

von türmen und dächern

das inland rühmt den unverstand

und überzieht sich prunkend mit palaver:

wir tragen im westen

die saubersten westen

der reichsten und besten

folgsam freut sich das land

 

weg mit der bilderflut!

was solln uns tote kinder immer wieder

und all das tote blut?

schon flöten die geigen

die tischbomben steigen

geburtstag hat das vaterland!

frischauf! stimmt an die gern gesungnen lieder

die freude zu mehren

die väter zu ehren

die kinder zu lehren

folgsam feiert das land

 

wer schweigt zeigt wer er sei:

man kennt das pack und überlässt es weise

der schnüffelpolizei

zum schutz von uns allen

wenn korken nun knallen!

 

[24]

was je mit diesem land verband

ist fichentand – es wenden sich leise

die warnenden erben

der wirklichkeitsscherben

gelangweilt zum sterben

folgsam vergisst das land

(1991)

 

 

[25]

bundesfeier

 

vor «wolkenüberspanntem See» gestalten

geeint im «Glauben an ein hohes Walten»

dressiert im arbeitsregiment

markieren staatserhaltend ein spalier

behaupten dumpf als pflichtgewordnes tier

das unverbrüchlich grosse wir

ein flüchtlingslager brennt

in saxon am 19. juli 1991

 

verwalter volksverbundner paradiese

betreten souverän die rütliwiese:

als räte und als präsident

musikcorps blasen «Mut und Zuversicht»

dreitausend kindern wächst ein lichtgesicht

das ambiente schillert «schlicht»

ein flüchtlingslager brennt

in laupen am 28. juli 1991

 

«Ein vaterländisches Heimatgefühl,

zu dem sich der Schweizer

sonst kaum mehr bekennt»

ergiesst sich aus den lastenden gesängen

aus dem verwalterwort den alphornklängen

vor nicht eroberbaren hängen

ein flüchtlingslager brennt

in genf am 1. august 1991

 

die flaggenwälder grüssen wahnversunken

des bundesfeuers sternenklare funken

 

[26]

den schein der weiss von weisser trennt

den brandsatz der hinauf bis an den schnee

entblösst: helvetia im negligee

zum bad lädt lächelnd stets der see

ein flüchtlingslager brennt

in thun am 3. august 1991

(1991)

v11.5