XI

 

 

An einem Werktag Glockengeläut? Wo brennt’s?

Wir blickten von den Zeichnungen zögernd auf

Zur Kirche, die das Fenster füllte,

Sahn nach der Lehrerin vor der Klasse.

 

Sie starrte aus dem Fenster, war bleich und schwieg.

Die Augen waren feucht und verharrten leer.

Und als sie sprach, war ihre Stimme

Tränenerstickt und vor Trauer dunkel:

 

«In dieser Stunde öffnet am Genfersee

Die neue Landesausstellung ihre Tür,

Wie stets nach fünfundzwanzig Jahren –

Letztmals in Zürich im Landidörfli,

 

Zuvor im Neunzehnvierzehn in unserm Bern.

Und beide Male war dieses Schweizerfest

Der Anfang einer grossen Kriegszeit.

Ach, was sech zweiet, das muess sech dreie!

 

Stehn nicht die Zeichen heute erneut auf Krieg?»

Sie sagte «Chruschtschow», «Kennedy», «Schweinebucht»,

Und all die grossen Radiowörter,

Die auch beim Essen die Eltern brauchten.

 

Orakel flammen auf und versinken schnell

Und unverstanden in die Vergessenheit.

Das Sprachenthobene ist mächtig:

Kindliche Sehnsucht sucht Selbstverlornes.

 

Der Ausflug mit den Eltern dann nach Lausanne,

Um auch zu sehn, dabei und modern zu sein.

Der Gang entlang von inszenierten

Zeichen und Wundern neuer Zeiten.

 

Das schlanke Monorail und die Pavillons,

Die Eisenschrottmaschine von Tinguely,

Die fugenlose Hochglanzwelt – doch

Schwieg hinterm Sichtbarn verdeckt der Wahrspruch:

 

Ich war gewarnt. Mir wurde der Preis genannt

Für diese volkserhebende Schau: der Krieg.

Der grellen Stahlwelt eingeschrieben

Sah ich den Feuersturm allen Fortschritts.

 

Der Nebel kam ins Dorf, und es wurde Herbst.

Der Winter kam. Die Expo war längst vorbei.

Doch nichts geschah: Der Krieg blieb aus, die

Lehrerin sprach nun von Schnee und Weihnacht.

 

Da packte mich Verachtung für diese Frau.

Ich hatte ihr Orakel als falsch erlebt:

Magie und Schicksal warn Betrug und

Narrengerede: Die Welt war machbar.

 

Die Welt ist machbar. Selten zwar, doch Vernunft

Lässt Hoffnung zu, der Glaube an Schicksal nicht.

Ein Misstraun blieb trotzdem, oft seh ich

Brandgarben drohen durch Chromstahlalltag.

 

[10.-22.3.1997]

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