Mehr Staat – weniger Freiheit

Eine professionell lancierte Kampagne: Am 9. September 1993 erklärt Bundesrat Arnold Koller am Jahresplanungsrapport mit seinen EJPD-Amtsdirektoren für 1994 das Problem der «Inneren Sicherheit» zum Schwerpunktthema seines Departements. Am 16. September sagt er an der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten, er habe nun einer Arbeitsgruppe den Auftrag erteilt, «ein Aktionsprogramm ‘Innere Sicherheit 1994’ zu erarbeiten». Am 22. Oktober stellt der Obwaldner Militär- und Polizeidirektor Toni Wolfisberg an der Tagung der Interparlamentarischen Konferenz der Nordwestschweizer Kantone die Ergebnisse einer Untersuchung «Über den emotionalen Umgang der Schweizer Bevölkerung mit Gewalt und Kriminalität» vor. Und siehe da: Obschon die Kriminalität 1992 real um 4,4 Prozent abgenommen hat, empfinden knapp 40 Prozent der Befragten – so Wolfisberg – «die Zunahme der Kriminalität auch auf der Ebene ihrer Wohngemeinde». So ist Kollers politischer Durchblick mit wissenschaftlicher Wahrheitsliebe vermählt worden. Ein enorm gäbiges Forschungsergebnis: Nicht das Problem wächst, aber die Angst vor ihm.

Die zweite Phase der Kampagne: Die staatstragenden bürgerlichen Parteien retten die total verängstigte «Bevölkerung». SVP-Präsident Hans Uhlmann rettet sie im Pressedienst der Partei («Innere Sicherheit: Ein wichtiges Anliegen der Bürger», 25. Oktober). Der Freisinn rettet sie an einer Pressekonferenz mit einem «Positionspapier» («Berichte, Thesen und Massnahmen zur öffentlichen Sicherheit in der Schweiz», 28. Oktober). Die CVP rettet sie an ihrer Delegiertenversammlung mit einem «Thesenpapier» («Sicherheit schafft Lebensqualität – Die innere Sicherheit: ein Anliegen der CVP», 30. Oktober). Gegen den staatsmännisch vorausgesehenen Undank der Welt wehren sich die Parteipräsidenten wie folgt: «Wir machen kein billiges Geschäft mit der Angst» (Carlo Schmid, CVP); «Wir wollen keineswegs das Geschäft mit der Angst betreiben» (Franz Steinegger, FDP); «Es geht heute nicht darum, […] ‘law and order’-Themen zu einem billigen Wahlkampfschlager zu machen» (Uhlmann, SVP).

Wer möchte hier das Gegenteil beweisen? Wirklich, eine professionell inszenierte Kampagne. Kein Wunder, dass Klaus J. Stöhlker, staatstragender Propaganda-Guru (Imagepflege von Elisabeth Kopp), zugibt, das Thema sei für Schweizer Verhältnisse «recht gut» lanciert worden, der Nation stehe ein «innerer Sicherheitsherbst, -winter und -frühling» bevor («Berner Zeitung», 29.10.1993). Gegenüber der WoZ distanziert er sich von letzterer Prognose, er habe «mit der Kampagne nichts zu tun», respektive er «glaube nicht an eine zentral gesteuerte Kampagne». Dass alle grossen bürgerlichen Parteien gleichzeitig über «Innere Sicherheit» zu reden begännen, habe vielmehr mit dem  «Wettbewerb» zu tun, Das Thema brenne in der «Bevölkerung» (und wer den «Blick» nicht liest, gehört sowieso schon so gut wie nicht mehr zu ihr).

Die etwas gar penetrante Inszenierung ist das eine, doch will das aufgeführte Stück auch inhaltlich gewürdigt sein. Hier in Kürze die drei schön hervortretenden Hauptlinien:

1. Mit der «inneren Sicherheit» haben die bürgerlichen Parteien jenes innenpolitische Thema geortet, mit dem sie das tendenziell wachsende Potential von Staatsverdrossenen und ProtestwählerInnen am rechten Rand des politischen Spektrums neu einbinden wollen. Als «neuer Joker im Wahlkampfpoker» («SonntagsZeitung», 17.10.) wird mit ihm «Stimmenfang und Parteipropaganda» («Bieler Tagblatt», 29.10.) betrieben. Im nächsten Frühling wählt man in der Stadt Zürich und im Kanton Bern, im Herbst 1995 sind die nächsten nationalen Wahlen.

2. Der Staatschutz soll rehabilitiert und ausgebaut werden. Die FDP fordert ein «Bundesgesetz für die Innere Sicherheit» als «notwendige gesetzliche Grundlage der präventiven Informationsbeschaffung und -verarbeitung ausserhalb des prozessualen Ermittlungsverfahrens», ansonsten fehle «den Behörden die Legitimation für ein konsequentes und wirkungsvolles Eingreifen». Der Datenschutz dürfe nicht zum Täterschutz verkommen. Verdeckten Fahndern (V-Männern) seien Zeugenschutz und Wahrung der Anonymität vor Gericht gesetzlich zu garantieren. Die Gründe für die Offensive im Bereich des Staatsschutzes, der im Zuge der Fichen-Affäre in den letzten Jahren bis in bürgerliche Kreise hinein ein bisschen in Verruf geraten ist: In den nächsten Wochen veröffentlicht der Bundesrat einerseits die Botschaft zur Volksinitiative «Schweiz ohne Schnüffelpolizei» (welche die Abschaffung der politischen Polizei fordert), andererseits jene zu einem Staatschutzgesetz (das die Legitimation für einen effizienten Staatschutz liefern soll).

3. Die repressiven Instrumente des Staates sollen auf allen Ebenen ausgebaut werden: Gefordert werden neue Gesetze, mehr Polizei und mehr Knäste. Oder freisinnig formuliert: «Den heutigen Bedürfnissen anzupassen sind die personellen und räumlichen Kapazitäten der Strafverfolgungs- und Strafvollzugsbehörden.» Wenn es stimmt, was der «Nouveau Quotidien» schreibt – «Globalement, la criminalité n’a guère augmenté en Suisse depuis 13 ans» (1.11.) – wenn sich also die Kriminalitätsrate seit dreizehn Jahren kaum erhöht hat, wird man sich Gründe für diese Forderung nach Aufrüstung des Staates ausdenken dürfen. Der Abbau des Sozialstaats zur Zweidrittelsgesellschaft macht – auch in der Schweiz ­ – eine soziale Unrast denkbar, die als «Kriminalität» zu deuten und präventiv zu bekämpfen die bürgerlichen Parteien in der Tat mandatiert sind. Und ist erst genügend Personal einsatzbereit, kann das muntere Sündenbockjagen an den Rändern der Gesellschaft zur Ablenkung, Abschreckung und Ergötzung der beschworenen «Bevölkerung» sehr effektvoll inszeniert werden. Wie das politische Klima für den Jagdbeginn hergestellt wird, hat im August die «Blick»-Hetzkampagne gegen «kriminelle Asylanten» instruktiv gezeigt (siehe WoZ Nr. 35/1993).

Merkwürdiger Zufall: In der neusten Ausgabe des deutschen Zeitung «analyse & kritik» (ak) findet sich ein grosser Beitrag unter dem Titel «Innere Sicherheit – Das wahlentscheidende Schlüsselthema der Innenpolitik 1994». Die Diskussionen um die «Innere Sicherheit» verlaufen dort wie hier parallel bis in gewisse Sprachregelungen hinein. Dort wie hier wird die Asyldebatte instrumentalisiert zur «‘Neujustierung’ der Grundrechte auf breiter Front zugunsten der Sicherheitsansprüche des Staates gegenüber den BürgerInnen angesichts wachsender sozialer und politischer Konfliktpotentiale». Und dort wie hier wird ein Gegensatz konstruiert zwischen dem Rechtsstaat und polizeilicher Effizienz, ein Gegensatz, der zur akuten Bedrohung für all jene wird, die sich, obschon im Land lebend, nicht in allen Teilen zur «Bevölkerung» zählen können (oder wollen). In Deutschland sagt Hans-Ludwig Zachert, Chef des Bundeskriminalamts: «Dann muss man der Bevölkerung sagen, in bestimmten Bereichen ist polizeiliche Effizienz nicht gegeben, weil sie das aus rechtsstaatlichen Gründen nicht darf.» In der Schweiz hat Uhlmann letzte Woche im SVP-Pressedienst geschrieben: «Auch die Politik muss Verständnis für die berechtigten Anliegen der zum Teil wegen ihrer gesetzlich eingeschränkten Möglichkeiten überforderten Polizeikommandos aufbringen.»

Wenn der Sozialstaat abgebaut wird, heisst das auch, dass der Staat umgebaut wird. Diesen Umbau propagandistisch zu unterstützen, dazu dient die nun lancierte Kampagne zur «Inneren Sicherheit» in der Schweiz. «Die Kampagne zur Inneren Sicherheit schreibt die Hausordnung weiter um in Richtung des autoritären Sicherheitsstaates», schreibt «analyse & kritik» mit Blick auf die BRD. Zum Glück ist die Schweiz nach wie vor immer ein Sonderfall.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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